Peter kam aus dem Wohnzimmer zurück, mit einem dicken Beutel alter Fotos in der Hand. Du wolltest doch Fotos sehen, sagte er – bitte!
In dieser Familie schien es keine Fotoalben zu geben, stattdessen eine große, ehemals transparente Plastiktüte. Wollte man ein Foto aufheben, kam es in den Beutel, der Beutel in die Schublade – fertig. Scheinbar wahllos waren Fotos aus unterschiedlichsten Jahrzehnten hineingestopft, und Peter kippte alle auf den Küchentisch.
Während er noch sortierte, fing er an zu erzählen. Obwohl ich innerlich die Nase gerümpft hatte, wie man so lieblos mit den Bildern seines Lebens umgehen konnte, wurde mir nun klar, dass die Methode gar nicht schlecht war. Beim Durchschauen des Berges, der das Leben der Familie abbildete, stieß man auf vieles, das einem beim zielgerichteten Suchen nach eine bestimmten Bild, säuberlich ins Album geklebt, niemals einfallen würde. Der Fotobeutel war ein Zufallsgenerator, der zum Erzählen anregte.
So bekam ich zunächst die Hochzeitsfotos von Peter und Sara vorgeführt (so jung!), wie Peters Kinder laufen gelernt hatten (so schnell!), wie er in den 1960er Jahren in Arad südlich vom Toten Meer mit den ersten Pionieren eine neue Stadt aus dem Wüstenboden gestampft hatte (so staubig!). Und auch die letzten Fotos von Charlotte sah ich, die anläßlich ihres Besuchs in Israel entstanden waren. Eine fidele Neunzigjährige schien sie gewesen zu sein, die immer lachte, obwohl sie schon im Rollstuhl saß.
Ganz unten unter dem Fotoberg lagen ein paar schwarze Pappen, herausgetrennte Seiten eines Fotoalbums. Ah! rief Peter, die Fotos von Lotte und Hans!
Auf diesen Albumseiten waren kleine Fotos mit gewelltem Rand eingeklebt, in schwer nachvollziehbarer Ordnung und ohne Beschriftung. Die meisten zeigten eine Familie, andere nur eine Frau mit Kind. Schau, zeigte Peter, das bin ich. Hier, mit meiner Mutti im Grünen, da gab es eine Schildkröte, die fand ich prima.

Und hier mit Lotte und Hans im Garten.
Von wann sind die? fragte ich verdutzt.
Aus dem Krieg natürlich, sagte Peter. Von wann sonst?

Es fiel schwer, das zu glauben. Eine Familie am Kaffeetisch in einer Gartenlaube – Hans, Lotte, der etwa fünfjährige Peter, und Baby Kurt auf Lottes Arm. Das Foto musste also ungefähr im Sommer 1943 entstanden sein – Kurt war im Februar 1943 geboren, wie mein Vater. Mein Vater, der so schlechte Zähne hatte, weil seine Mutter ihn mit Zuckerwasser und Mondamin aufpäppelte.
Neben Hans saß noch ein Mann, an den Peter sich nicht erinnerte. Auf dem Tisch standen Kaffee und Kuchen. Auf einem zweiten Foto mit Familienidyll am selben Gartentisch lagerten vor dem Tisch ganz entspannt zwei Schäferhunde.

Nelson hieß der eine, sagte Peter, mein Vater hat immer Hunde gehabt. Ich auch, immer haben wir Hunde gehabt. Und rief den Hund zu sich, der wie zum Beweis seinen Kopf auf Peters Schoß legte. Weißt Du, wie ich ihn bekommen hab? Meine Enkelin war mit im Tierheim. Opa, hat sie gesagt, sollen wir nicht den nehmen? Der ist so häßlich, den will sonst keiner. Und ich hab gedacht: Der Hund ist ein bißchen wie ich. Wenn mich nicht jemand aus dem Heim mitgenommen hätte, wär’ ich heute nicht hier. Also sag ich zu ihr: Den nehmen wir! Und seitdem ist er bei uns.
Im Juli 1943 hatte Goebbels siegessicher verkündet, Berlin sei nun “judenrein”. Doch, musste man angesichts dieser Fotos sagen, er irrte: Im Berliner Sommer 1943 saß eine jüdische Familie mit ihren zwei kleinen Kindern und zwei Schäferhunden im Garten, genoß Kaffee und Kuchen und dachte nicht daran, sich vergasen zu lassen.
Verstehst Du jetzt, warum ich die Fotos niemand zeigen kann?
sagte Peter. Was werden die Leute sagen: Wo warst Du im Krieg?
In Miami? (22/x)