Der erste richtige Durchbruch kam aus einer anderen Richtung, zwei Tage nachdem mir Dani die Shanghai-Theorie unterbreitet hatte. Das größte Problem war das Fehlen von Daten zu Peters Mutter. Sie stand in keinem Adressbuch, in keiner Datenbank von Opfern oder Überlebenden, in keinem weltweiten genealogischen Verzeichnis. Aber ohne Geburtsjahr und -ort konnten auch die Standesämter nicht weiterhelfen.
Auf der Suche nach weiteren Quellen war ich auf eine sehr spezielle Sammlung von Personendaten im Deutschen Reich gestoßen, der Volkszählung 1939.
Ziel dieser Volkszählung im Mai 1939 war die lückenlose Registrierung aller Juden, die trotz der Verfolgungsmaßnahmen immer noch im Deutschen Reich lebten. Zu diesem Zweck musste jeder Haushalt eine Karteikarte mit Namen, Anschrift, Konfession und Bildungsgrad seiner Mitglieder ausfüllen. Auf einer separaten Karte musste jede Person angeben, wieviele Großelternteile den Nürnberger Gesetzen nach „der jüdischen Rasse“ angehört hatten. Diese Ergänzungskarten zur Volkszählung 1939 befinden sich heute im Bundesarchiv Berlin und enthalten Namen, Geburtsdatum und -ort, Wohnanschrift zum Zeitpunkt der Volkszählung sowie die Anzahl der jüdischen Großelternteile.

Wegen des schlechten Zustands der Karten war die Einsicht in die Originale nicht möglich. Das Bundesarchiv hatte jedoch aus den Ergänzungskarten eine Datenbank zusammengestellt und um andere Personendatenquellen zu einer „Liste jüdischer Residenten im Deutschen Reich 1933-1945“ ergänzt. Im Gegensatz zur Gedenkbuch-Datenbank enthielt diese „Residentenliste“ auch Informationen über Personen, die den Holocaust überlebt haben. Daher war sie nicht online zugänglich, denn einige dieser Personen leben noch und haben ein Recht auf den Schutz ihrer persönlichen Daten.
Das Bundesarchiv gab jedoch schriftlich Auskünfte aus der Datenbank, und so kam zwei Wochen später Antwort:
„In den Ergänzungskarten für Angaben über Abstammung und Vorbildung (Volkszählung vom 17. Mai 1939), enthalten im Bestand R 1509 Reichssippenamt, konne ich Ursula Lewkowitz ermitteln. Wie Sie aus beiliegender Kopie ersehen, wohnte sie mit Sara Lewkowitz in einem Haushalt. Peter Ruben Lewkowitz befand sich am 17.05.1939 im Säuglings- und Kinderheim Moltkestr. 8/11.“
Als ich das Schreiben aus dem Briefkasten zog, dauerte es etwas bis ich begriff, welchen Fortschritt das bedeutete. Zum ersten Mal hatten wir einen Nachweis der Existenz von Peters Mutter jenseits seiner Geburtsurkunde. Wir wussten nun sogar den Namen einer Angehörigen, vielleicht ihrer Mutter. Zudem hatte Hans Salomon nicht gelogen als er angab, dass das Kind aus dem Kinderheim kam. Das Jüdische „Säuglings- und Kinderheim“ befand sich in Berlin-Niederschönhausen, genau wie er 1958 an Dr. Bloch geschrieben hatte.
Das Bundesarchiv hatte über diese drei Personen weitere Information aus den Ergänzungskarten zur Volkszählung und schickte einen Auszug aus der Datenbank:
Recherche in: Berlin
Name: Lewkowitz Sara
Mädchenname: Posener Geburtsdatum: 25.06.1883
Geburtsort: Miloslaw, Abstammung: JJJJ
Wohnort: [Berlin-]Charlottenburg
Anschrift: Kurfuerstendamm 38
Recherche in: Berlin
Name: Lewkowitz Ursula
Mädchenname: Geburtsdatum: 22.11.1919
Geburtsort: Poznan (Posen), Abstammung: JJJJ
Wohnort: [Berlin-]Charlottenburg
Anschrift: Kurfuerstendamm 39
Recherche in: Berlin
Name: Lewkowitz Peter
[handschriftlich hinzugefügt:] Ruben
Mädchenname: Geburtsdatum: 22.05.1938
Geburtsort: Berlin Abstammung: JJJJ
Wohnort: [Berlin-] Niederschoenhausen
Anschrift: Moltkestr. 8/11, Heim für Säuglinge und Kleinkinder
Geburtsort und -datum waren mit denen der in England als „Enemy Alien“ registrierten Ursula identisch. Peters Mutter war tatsächlich nach England entkommen und hatte dort aller Wahrscheinlichkeit nach den Krieg überlebt. Sie war nicht ermordet worden sondern vielleicht noch am Leben. Die Vision, den siebzigjährigen Sohn mit seiner neunzigjährigen Mutter bekanntzumachen, wurde zu einer Möglichkeit. Die Vorstellung machte mich etwas schwindlig.

Und wer war Sara Lewkowitz, geb. Posener, 1883 in Miloslaw geboren? Den kleinen Ort Miloslaw fand ich in der ehemaligen Provinz Posen, heute Polen. Auch die englische Ursula von 1939 stammte aus Posen. War Sara Ursulas Mutter? Auch die Wohnanschrift verriet etwas über die beiden Frauen. Der Kurfürstendamm, Berlinern als Kudamm bekannt, war und ist eine der feinsten Adressen des alten Westberlins. Wenn Ursula und Sara auf diesem Boulevard gewohnt hatten, waren sie vermutlich nicht aus armen Verhältnissen. Dennoch hatten sie zu einem unbestimmten Zeitpunkt beschlossen, den kleinen Peter ins Heim zu geben.
Als ich Sara Lewkowitz in den zeitgenössischen Berliner Adressbüchern suchte, fand ich – keinen Eintrag. Erst als mir die Idee kam, es im Teil zu versuchen, der nach Straßen geordnet war, fand ich sie an der angegebenen Adresse: „Lewkowitz, S., Ww.“, von 1939 bis zum letzten Berliner Kriegsadressbuch 1943 stets mit der Anschrift auf dem Kudamm. Sie war also verwitwet, wie das „Ww.“ (Witwe) sagte. Falls sie tatsächlich Ursulas Mutter war, musste der Vater vor 1939 verstorben sein. Nach ashkenasischer Tradition hätte Peters zweiter Vorname Ruben der des Großvaters sein können. Meine Eingebung, Ruben Lewkowitz in den gängigsten Datenbanken zu suchen, lief jedoch ins Leere. Wenig verwunderlich, denn Sara Lewkowitz konnte schlicht eine beliebige weibliche Verwandte von Ursula sein.
Im Schwung der Begeisterung, endlich verlässliche Daten über Peters Mutter gefunden zu haben, übersah ich zunächst die zweite wichtige Information, die das Schreiben vom Bundesarchiv enthielt. In der Residentenliste, so schrieb die Archivarin, habe sie auch einen Datensatz über einen Jungen namens Peter Salomon gefunden, geboren am selben Tag wie Peter Ruben Lewkowitz in Berlin. Doch sie könne nicht entscheiden, ob es sich um die selbe Person handelte, und bat mich, ihr mitzuteilen, was ich über eine mögliche Identität wüsste. Da das Schreiben eine Telefonnummer enthielt, griff ich zum Hörer und versuchte zu erklären, wieso beide Peters höchstwahrscheinlich identisch waren, und fragte nach der Herkunft der Daten über Peter Salomon. Denn dies war – ebenso wie der erste Beleg der Existenz von Ursula jenseits der Geburtsurkunde ihres Sohnes – der erste Nachweis, den wir über Peters Zeit bei der Familie Salomon hatten.
Die freundliche Archivarin konnte mir jedoch nicht weiterhelfen, der Datensatz stammte offenbar von einer anderen Institution und enthielt nichts weiter als Name und Geburtsdatum. Sie verwies mich ans Landesarchiv Berlin, das ihrer Ansicht nach diesen Teil der Datenbank erarbeitet hatte.
(10/x)