Einmal Kreuzberg und zurück


Wir saßen in der Linie 1 nach Kreuzberg. Dorthin, wo Peter als Pflegekind der Familie Salomon den größten Teil seiner Kindheit verbracht hatte. Als die Bahn sich dem Kottbusser Tor näherte, begann er, auf seinem Sitz herumzurutschen. Die Hochbahn! rief er. Die Berliner U-Bahn fährt auf dieser Strecke oberirdisch auf einer Stelzenkonstruktion – der Hochbahn, einem Wort, das ihm eben nach über sechzig Jahren wieder eingefallen war.

Hochbahn Kottbusser Tor
Hochbahn (Wikipedia CC BY-SA 4.0, by Roehrensee)

Am Kottbusser Tor funktionierten weder Rolltreppen noch Fahrstühle. Sarah humpelte die Treppen hinunter, Peter wartete geduldig, bis sie Stufe um Stufe unten anlangte. Dort empfing uns der Kotti in seiner abgewrackten Pracht: Obskure Gestalten, Unrat unter den Hochbahnstelzen und nackter Asphalt, der gnadenlos die Sonne reflektierte. Man sah, die beiden hatten sich das anders vorgestellt.

Ich steuerte Richtung Landwehrkanal, wo Kreuzberg netter war, die Straßen baumbestanden, die Altbauten und der Kanal malerisch. Während wir an türkischen Läden vorbeischlenderten, versuchte ich mir vorzustellen, wie die Straße 1942 ausgesehen haben mochte, welche Bilder jetzt in Peters Kopf abliefen. Aufmerksam lief er durch die Straßen seiner Kindheit, wachsam, als könne jeden Moment ein Gestapomann hinter der Ecke hervorspringen. Zugleich sog er jedes Detail in sich auf, zeigte hierhin und dorthin, als ob er alles zum ersten Mal sähe. Und er keuchte angestrengt, ich hatte ein wenig Angst um ihn. Sarah lief hinter uns, blieb wieder zurück. Ihre Hüfte, deutete sie entschuldigend, und: Alles in Ordnung, schien ihr Lächeln zu sagen, Ihr schafft das schon.

Am Landwehrkanal

Schließlich waren wir am Kanal angelangt und bogen Richtung Synagoge ab. In deren Hausmeisterwohnung die Familie Salomon mindestens bis Kriegsende gewohnt hatte, obwohl die Synagoge im November 1938 ausgebrannt war. Ein Zaun umgab das Gelände, Kameras hingen über dem Eingang, davor gelangweilt ein junger Uniformierter, Waffe im Halfter.

Peter blieb am Kanal stehen und blickte auf das Ensemble mit Mauern und Kameras. Hier, sagte er unvermittelt und klopfte aufs Geländer, da hat er gehangen, der tote Gestapomann, unser Nachbar. Und da – er deutete auf die Synagoge – da fehlt was. Rechts wo die Bäume stehen war noch ein Haus, ein großes Haus. Siehst Du die Bäume? und das Haus daneben? Das hört ganz plötzlich auf, wie abgeschnitten. Da fehlt was.

Ein paar Meter weiter entdeckte ich eine Gedenktafel mit einem Foto aus den 1920er Jahren, das rechts neben der heutigen kleinen Synagoge ein imposantes Gebäude zeigte, an dessen Stelle nun Bäume wuchsen. Siehst Du! rief Peter. Hier, die Stufen vor dem Eingang! Es gibt ein Foto von mir auf einem Dreirad, vor den Stufen. Wie hab ich Dir gesagt: Da war noch ein Haus. Ich hab das ganz richtig im Kopf gehabt. Die Übereinstimmung von Erinnerung und Bild freute ihn sichtlich.

Synagoge Kottbusser Ufer, ca. 1917 (Wikipedia)

Mutig erzählte ich dem Burschen mit Waffe, dass mein Begleiter als Kind hier gelebt habe, ob wir kurz hineindürften. Er schüttelte den Kopf und schaute durch mich hindurch, sein Walkie-Talkie quakte. Peter hatte abseits gestanden, doch nun fing er an, auf den Kerl einzureden, dessen Gesicht sich aufhellte. Es war israelisches Wachpersonal. Wie schon im Gartencafé am Ku’damm war Peter in seinem Element. Er gestikulierte, lachte, klopfte anerkennend dem Mann auf die Schulter, der sich in einen schüchternen Jungen verwandelte und Peter bewundernd musterte. Zwischendrin übersetzte der mir, dass gerade Gottesdienst und ein jüdischer Feiertag sei. Der Wachmann willigte ein, uns für einen Moment hineinzulassen. Doch Peter schaute nur kurz in die Räume, in denen sich die Gemeinde auf den Gottesdienst vorbereitete, ohne eine Spur des Wiederkennens.

Draußen lehnte Sarah müde am Geländer, über dem der tote Gestapomann so malerisch gehangen hatte. Nun aber wollten wir noch die zweite Adresse finden, die Fleischerei, in die die Familie Salomon nach Kriegsende gezogen war. Wir durchstreiften die Straßen hinter der Synagoge auf der Suche nach Hausnummer 16, aber wie auf dem Ku’damm hatten wir auch hier kein Glück.

Einer von hier

Nachdem wir die Straße dreimal auf- und abgegangen waren, fragte Peter schließlich einen älteren Türken, der auf dem Bürgersteig ein Kinderfahrrad reparierte. Im Grunde passte Peter mit seinem großen Schnurrbart und der hemdsärmligen Art, selbst mit seinem lückenhaften Deutsch perfekt in die Umgebung. Er wäre anstandslos als Kreuzberger Türke durchgegangen. Das schien auch der Mann mit dem Fahrrad zu denken, der sofort mit uns beratschlagte, wo Haus Nummer 16 geblieben sein könnte. Die Neubauten auf der linken Seite, da muss es gewesen sein. Hat man in den siebziger Jahren alles abgerissen, schade drum, gute Häuser. Das stimmte mit Peters Erinnerung an die Topographie seiner Kindheit überein. Neben der Schule hab ich gewohnt, sagte er. Und richtig befand sich auch heute dort, wiewohl in einem Neubau der siebziger oder achtziger Jahre, eine Schule.

Erst später sah ich auf einer historischen Karte von Berlin, wie nah sich die Synagoge und die Hausnummer 16 gewesen waren.

Berlin Kreuzberg 1935 (HistoMap)

Wieder hatten wir kein Haus gefunden. Auch das Hauptgebäude der Synagoge, in dem Peter gewohnt hatte, war weg. Doch Peter schien das nicht zu stören. Im Gegenteil, als wir uns wieder auf den Weg zum Kottbusser Tor machten, war er bester Laune. Kurz bevor wir an der Hochbahn anlangten, schlug er sich auf einmal vor den Kopf: Ein Foto! Ich wollte ein Foto von der Synagoge machen! Sarah lachte und verkündete, dies könnten wir gerne tun, sie für ihren Teil könne keinen Schritt weiter. Geht nur, geht! Zwischen Dealern und Pennern blieb sie auf einem Mäuerchen sitzen und winkte uns zu.

Peter und ich zogen also los, und mit jedem Schritt fiel die Anspannung von ihm ab. Er grüßte jovial jeden türkischen Händler, der zurückgrüßte, weil er ihn für einen alten Bekannten hielt, und erzählte einen Witz nach dem anderen. Vor der Synagoge drückte er dem Securitymann die Kamera in die Hand, der ein klassisches Foto von zwei grinsenden, sonnenbebrillten Touristen vor einer Kreuzberger Sehenswürdigkeit schoss. (16/x)

Zwei Touristen vor einer Kreuzberger Sehenswürdigkeit