Bei der ersten Begegnung in der Hotellobby hatte Peter mir nach Überreichung des silbernen Jerusalem-Modells noch etwas gezeigt, das er im selben Plastikbeutel hatte: Eine Kopie aus einem Buch über Bergen-Belsen.
Saras Kollege Dani, der selbst im Frühjahr 1946 in der Nähe des DP-Lagers Bergen-Belsen geboren worden war, hatte ihm dies Buch eines Tages zur Lektüre mitgebracht. Er ließ es bei Peter auf dem Küchentisch. Erst später erfuhr ich, dass Peter Legastheniker war und in seinem Leben außer technischen Handbüchern kaum ein Buch gelesen hatte. Also schaute er vor allem die Bilder an.
Plötzlich stieß er auf eines, das ihn berührte. Das Foto zeigte eine Gruppe von sechs Kindern. Laut Bildunterschrift entstand es an Bord des Schiffes “Champollion”, das im Frühjahr 1946 neben anderen Überlebenden und Flüchtlingen auch jüdische Kinder nach Palästina brachte.
Links ein Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt, in der Mitte drei kleinere Kinder – circa vier bis sechs Jahre -, und rechts ein ungefähr siebenjähriger Junge mit verschmitztem Grinsen. Rechts neben dem Mädchen stand noch ein Junge, seinen Arm nonchalant auf ihre Schulter gelegt, die Augen geschlossen und lächelnd.
Holocaust and rebirth: Bergen-Belsen, 1945-1965 (New York 1965), S. 112
Das bin ich, sagte Peter und tippte auf den Jungen mit geschlossenen Augen. Er holte tief Luft. Weißt Du, ich war allein zu Haus, Sara war aus. Und ich hab geglaubt, vielleicht seh ich schon Gespenster. Ich habe also gesessen und die Fotos angeschaut noch und noch. Dann bin ich zu meiner Tochter gegangen, sie wohnt gleich nebenan. Schau mal, hab ich gesagt, kennst Du wen auf dem Foto? Klar! hat sie gerufen, Der zweite von links, mit den kurzen Hosen und Augen zu, das bist doch Du! Genau, hab ich gesagt.
Das bin ich im Frühjahr 1946, auf dem Weg nach Eretz Israel. (24/x)
Wir arbeiteten seit zwei Monaten an diesem Projekt, ohne echte Fortschritte. Immer noch hatten wir keinen Beleg, was wirklich mit Peters Mutter passiert war, warum die Salomons ein fremdes Kind zu sich nahmen und den ganzen Krieg hindurch beschützten wie ihr eigenes, ganz zu schweigen vom Rätsel ihres geordneten und normal wirkenden Lebens in Berlin, inmitten von Nazis und Bombenangriffen.
Ich bat Dani, nochmals mit dem Ehemann seiner Kollegin zu sprechen. Egal wie schüchtern der Mann war, wenn er mehr über seine Mutter erfahren wollte, musste er seine Erinnerungen teilen. Dani machte einen Termin mit Peter und berichtete:
„I spoke with Peter and he did not come up with much more new information, except that: 1) the last time he saw Charlotte, his adopted mother, was after the war when an American bomb had wounded him in the eye and her in the leg. The soldiers took them to different hospitals. 2) In Bergen-Belsen he first met the soldiers of the Jewish Brigade who later took him with a group of Jewish children to Israel. 3) He does not know anything about the Salomons’ intention to send him to England or to join them in the U.S.A. 4) Peter believes that his father is Hans Salomon. He has two excuses for that: First, everyone says that he looks like his brother Kurt, and second, he believes that reasonable people will not take a child unless it belongs to them somehow. I am not sure about that because one can also say that a reasonable Jew will not dare bringing into that horrible world of those days a new Jewish baby (Kurt).“
Dies erhellte einiges, warf jedoch neue Fragen auf und ließ meine Neugier unbefriedigt. Peter meinte, er sei bei einem Bombenangriff von seiner Pflegemutter getrennt worden, datierte dies jedoch auf die Zeit nach Kriegsende, was logisch unmöglich war. An die Abreise nach England erinnerte er sich nicht, nur daran, dass er von Soldaten der jüdischen Brigade von Bergen-Belsen nach Palästina gebracht worden sei. Wie jedoch gelangte er von Berlin nach Bergen-Belsen?
Auf den ersten Blick scheint absurd, dass ein jüdisches Kind aus Berlin in Bergen-Belsen landete, dem Ort eines des größten Nazi-Konzentrationslager auf reichsdeutschem Boden. Doch Belsen, wie es genannt wurde, war in der Zwischenzeit in ein Lager für „displaced persons“, kurz DPs, umgewandelt worden. Die ersten Belsener DPs waren die ehemaligen Lagerinsassen, die am 15. April 1945 von britischen Truppen mehr tot als lebendig auf dem Lagergelände angetroffen worden waren.
Weil die meisten der befreiten Insassen keine Heimat und Familie mehr hatten, zu der sie hätten zurückkehren können, richteten die Alliierten ein Auffanglager in den neben dem KZ befindlichen Militärbaracken ein. Die Britische Armee, in deren Zone das Lager lag, und später auch die UN-Flüchtlingsorganisation UNRRA, eröffneten Büros zur medizinischen und sozialen Versorgung der Überlebenden sowie Suchdienste zur Familienzusammenführung.
So wurde Belsen ein Magnet für heimatlose Überlebende auf der Suche nach Nahrung, Hilfe und überlebenden Verwandten. Auf dem Höhepunkt seiner Belegung befanden sich 12.000 jüdische Überlebende im DP-Lager Belsen und so verlegten die meisten Hilfsorganisationen ihr Hauptquartier in der britischen Zone dorthin.
Überlebende mit Kind auf der Krankenstation des DP-Lagers Bergen-Belsen; Imperial War Museum London
Bemerkenswerterweise wurde Bergen-Belsen der Ort in Europa, an dem der Reichtum und die kulturelle Vielfalt jüdischen Lebens in Osteuropa ein letztes Mal aufblühten. Und dies in einem Tempo, das all das Grauen, das hinter ihnen lag, zu kompensieren wollen schien. Es gab jiddisches Theater, Musik und Literatur, Zeitungen, Schulen und Kindergärten, Berufsausbildung und nicht zuletzt politische Aktivitäten, die meist zionistisch waren und versuchten, die Politik der Alliierten gegenüber den DPs zu beeinflussen. In Belsen gründeten die jüdischen Überlebenden der westlichen Besatzungszonen auch eine politische Selbstvertretung, das „Zentralkomitte der befreiten Juden“ unter Führung des charismatischen Auschwitz-Überlebenden Josef (Jossele) Rosensaft. Die Geburtenrate war die höchste, die jemals bei einer jüdischen Gemeinde gemessen wurde. So viel Tod und Verzweiflung lagen hinter den Befreiten, so groß war der Hunger nach Leben. Erst viel später erfuhr ich, dass auch Dani im Frühjahr 1946 in einem Krankenhaus nicht weit von Bergen-Belsen geboren war. Doch wie kam Peter von Berlin dorthin? Und wann?
Peters Vermutung, dass Hans Salomon sein leiblicher Vater gewesen war, bot für viele Fragen eine einfache Erklärung – warum die Salomons trotz der Umstände sich mit einem Kind hätte belasten sollen, das sie vor allen Gefahren beschützten, vielleicht sogar unter Einsatz ihres eigenen Lebens und das ihres jüngsten Kindes Kurt, und auch, wieso sie Peter wie einen leiblichen Sohn vermissten. Doch wenn Peter das Produkt eines außerehelichen Affäre war, hätte dann nicht Hans seiner Frau dies gebeichtet, da es die einzige Chance war, das Kind wiederzubekommen, an dem auch sie wie an einem eigenen Sohn hing?
Hans und Charlotte waren beide lange tot, Peters Erinnerungen blieben vage, und unser Wissen über seine Mutter beschränkte sich auf ihren Namen und eine Adresse, die nirgendwohin führte. Nicht genug um zu entscheiden, ob sie 1937 eine Beziehung mit einem verheirateten, ungefähr 35jährigen Hausmeister einer Berliner Synagoge gehabt haben könnte.