Last Exit Shanghai

Die Geschichte drehte sich im Kreis. Ohne exakte Angaben über Ursula, Peters ledige Mutter, war das Rätsel seiner Herkunft nicht zu lösen. Immer stärker wurde die Vermutung, dass ihre Identität auch der Schlüssel zum Verhalten der Familie Salomon war.

Gleich als Dani mir die ersten Angaben geschickt hatte, hatte ich einen Suchantrag beim Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes (ITS) in Bad Arolsen gestellt. Diese bemerkenswerte Institution, nach dem Krieg tatsächlich ein Suchdienst zur Zusammenführung im Krieg getrennter Familien, befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem in ihrer Geschichte einmaligen Umbauprozess.

Das Archiv des ITS verfügte über Akten von Konzentrations- und Zwangsarbeiterlagern, Informationen aus der Nachkriegszeit zu Überlebenden in den Besatzungszonen, sowie über andere wertvolle Bestände, die man nach dem Krieg zusammengetragen hatte, um alles zu bündeln, was bei der Suche nach Angehörigen helfen konnte. Auch alle je gestellten Suchanfragen wurden archiviert. 26 Kilometer Archivalien mit Informationen über 17.500 Personen und damit das größte Archiv zur Geschichte des Holocausts.

Historical photo of ITS: staff members researching individual fates
Foto: Gzwilling, Lizenz: CC BY-SA 4.0, Original hier.

Doch bis Ende 2007 war dieses wichtige Material für die Öffentlichkeit nur schlecht zugänglich. Lediglich Angehörige, die nach vermissten oder verschollenen Personen suchten, konnten auf Antrag Auskünfte erhalten, und selbst dieses Verfahren war kompliziert und der Bearbeitungsstau enorm. Im März 2006 berichtete die Washington Post, dass hunderttausende Opfer und ihre Angehörigen bereits jahrelang auf Antwort warteten. Ein paar Jahre zuvor hatte ich in meiner ersten Recherche für Dani versucht, Informationen vom ITS-Archiv zu erhalten. Als mir mitgeteilt wurde, dass die Antwort bis zu vier Jahren dauern könnte, gab ich auf.

Opferorganisationen und Historiker:innen beschwerten sich auch öffentlich über diese restriktive Politik und forderten eine Öffnung der Bestände. 2007 stimmte das Internationale Kommittee vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf, der Träger des ITS-Archivs, endlich zu, Kopien der Akten an Archive und Institutionen der Holocaust-Forschung weiterzugeben, wie Yad Vashem und das US Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington. Ab November 2007 konnte man Auskünfte über ITS-Bestände vom amerikanischen USHMM erhalten, ohne das komplizierte Verfahren in Bad Arolsen, und ich versuchte mein Glück via Internet und Email mit Anfragen zu Peter und Ursula Lewkowitz.

Währenddessen machte Dani einen überraschenden Fund. Wir dachten beide, dass es angesichts der vielen Datenbanken zu Holocaust-Opfern und Überlebenden unwahrscheinlich war, dass Ursula umgekommen war, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Es gab nur wenige Erklärungen für ihr Fehlen: Sie konnte sich umgebracht haben – doch wir hatten die jüdischen Friedhöfe in Berlin überprüft -, sie konnte aus Deutschland entkommen oder in der Illegalität überlebt haben – doch in keiner Nachkriegsliste von Überlebenden tauchte sie auf. Die dritte und wahrscheinlichste Möglichkeit war, dass sie ihren Namen geändert hatte, zum Beispiel durch Heirat.

Also begann Dani, nach einer verheirateten Ursula zu suchen. Er nahm an, dass Peters Mutter in der Tat diejenige war, die 1939 in England aktenkundig geworden war, und suchte in genealogischen Datenbanken nach Frauen mit Vornamen Ursula, die 1919 in Posen geboren worden waren.

Und tatsächlich: Auf der Passagierliste eines Schiffes, das 1948 von Shanghai kommend in San Francisco anlegte, fand sich eine vierköpfige Familie, auf die die Beschreibung passte. Die 30jährige Ursula Wiener und ihr 48jähriger Ehemann Paul hatten offenbar die Kriegsjahre in Shanghai verbracht, dem einzig verbliebenen Zufluchtsort für Juden, die für andere Emigrationsländer kein Visum erhielten.

Passagierliste bei der Einreise nach San Francisco: Paul und Ursula Wiener mit Sohn Peter.

In San Francisco landeten die Wieners mit ihren beiden Söhnen im Alter von acht Jahren und drei Monaten. Der Achtjährige hieß Peter. Ursula, deren Mädchenname ungenannt blieb, war 1919 in Posen geboren. Es sah aus, als hätten wir sie gefunden.

Dani war begeistert: „When we look at the name and birth date of the older son Peter, it rings a bell, doesn’t it? Now let’s speculate wildly and say that shortly after the birth of our Peter his mother escaped to England, was registered as Enemy Alien and a little later got married to Paul Wiener. When she gave birth to their new baby boy, she called him Peter, after her lost child in Berlin. Now we only have to find something to confirm that Ursula Lewkowitz is Ursula Wiener, maybe a marriage document.“ Sogar die beiden Söhne von Ursula und Paul hatte er im amerikanischen Telefonbuch aufgestöbert.

Die Übereinstimmung war frappierend. Doch warum hätte Ursula, nachdem sie ins sichere England gelangt war, nach Shanghai weiterreisen sollen, wo die verzweifelten jüdischen Emigranten in überfüllten Quartieren ohne Arbeitsmöglichkeit mehr vegetierten als lebten? Falls wirklich sie es war, die im November 1939 als „Enemy Alien“ registriert worden war, hätte sie nach Ausbruch des Krieges überhaupt eine Schiffspassage nach Shanghai buchen können?

Trotz meiner Zweifel überlegte ich, die Söhne der Wieners in den USA anzurufen, entschied mich dann aber für einen weniger aufdringlichen Brief, dem ich eine Kopie von Peters Geburtsurkunde beilegte. Auch auf diesem Weg würde sich hoffentlich herausstellen, ob die Shanghai-These eine Schnapsidee oder ein Durchbruch war.

(7/x)

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