Überall in Israel wurde ich, die Deutsche, mit der größten Herzlichkeit empfangen. Wie im Kibbuz, bei Peters Kindheitsfreund und Ottos zweitem Zögling Sasson. Sasson stammte aus einer irakischen Familie mit zehn Kindern, weswegen der Junggeselle Otto Schnitzler auch diesen Jungen unter seine Fittiche nahm.
Sasson bewohnte mit seiner Frau eine kleine, zweckmäßige Kibbuz-Wohnung und lief barfuß, in Hemd und Drillichhose. Einer seiner Söhne, der auch im Kibbuz lebte, kam mit dem kleinen Enkel hinzu, und es wurde aufgetischt, was da war. Salat, Obst, Gemüse, Brot. Ich habe als Vegetarierin nie so gut gegessen wie in Israel. Von Sasson lernte ich dann auch, wie man irakischen Kaffee kocht.
Wir saßen um den Küchentisch und sprachen über Otto. Otto war von Haus aus ein bildungsbürgerlicher Mensch gewesen, ein Jekke, wie man in Israel die steifen, gut erzogenen Deutschen nennt. Im Kibbuz mischte er Hühnerfutter und spielte nach Feierabend auf einem alten Grammophon Schubert. Sasson und Peter sprachen von Otto mit großer Wärme und Herzlichkeit. Er hatte ihnen ein emotionales zuhause gegeben, das sie fürs Leben prägte.
Sassons Sohn stand auf und kam mit einem Holzkästchen wieder. Es war eine Schatulle mit einer runden Vertiefung, in der sich eine Taschenuhr befand. Die Uhr war alt, doch sie ging noch. Hier, sagte Sasson, auf dem Deckel ist etwas eingraviert – kannst Du das lesen? Ich las: “Otto Schnitzler zu seiner Bar Mizwa, Köln 1920”. Sasson strich langsam über die Buchstaben.
Ja, sagte er, als Otto starb durfte sich jeder ein kleines Andenken aussuchen. Ich habe die Uhr genommen.

Wusstest Du, sagte Peter, ich habe auch eine Uhr von Otto bekommen. Wir hatten keine Bar Mitzvah, das war den Kibbuzleuten zu religiös. Aber eine kleine Feier für die Kinder des Kibbuz gab es. Wir waren fünf Jungs, die gerade 13 geworden waren.
Der Speisesaal wurde geschmückt, es gab ein Buffet, und jede Familie war stolz auf ihren Sprößling. Nun hatte ich außer Otto ja niemandem, keine Eltern, keine Verwandten. Aber ich bin mit allen andern zu der Feier gegangen, die man für uns gemacht hat.
Am Nachmittag vor der Feier ist Otto am Speisesaal vorbeigekommen und hat geschaut, wie schön der dekoriert war. In einer Ecke lag ein Kissen mit den Armbanduhren, die die Kinder bekommen sollten.
Otto hat auf einmal gesehen: Da lagen nur vier Uhren. Vier Uhren für fünf Kinder. Da ist er losgerannt, zum Bus nach Haifa. Autos gab es ja nicht, man musste den Bus nehmen, wenn man in die Stadt wollte.
Zehn Minuten vor Beginn der Feier kam er zurück, ganz außer Atem. Vor den Augen aller Gäste ist er zu dem Kissen gegangen und hat die fünfte Uhr dazugelegt.
So war das im Kibbuz. (28/x)
