Bündelweise Briefe (II)

Die meisten Briefe stammten von Peters neuem Pflegevater im Kibbuz, einem deutschstämmigen Israeli mit dem schönen Namen Otto Schnitzler. Dem Ton nach war er ein gebildeter und sehr gewissenhafter Mann, ein typischer Jecke, wie die Israelis spöttisch-liebevoll die deutschstämmigen Einwanderer nennen, die in der hemdsärmeligen israelischen Gesellschaft ihre förmliche europäische Steifheit nicht ablegen konnten. Der damals schon vierzigjährige Otto war nach Peters Erzählungen ein etwas verschrobener Junggeselle und liebevoller Pflegevater. Er hatte sich zur Aufgabe gemacht, mehr über die Berliner Kindheit des Jungen herauszufinden, und so bestand ein Großteil der Korrespondenz aus Briefen zwischen ihm und der ehemaligen Berliner Pflegefamilie, die nach dem Krieg in die USA ausgewandert war. Es begann im Juli 1947 mit einem Schreiben, das Otto nach Berlin schickte. Offenbar hatte sich der Junge an eine Adresse in Berlin erinnert:

„Bei uns befindet sich ein Waisenkind“

„Bei uns befindet sich ein Waisenkind, PETER SALOMON, geb. 22. Mai 1938, der April-Mai 1946 von Blankenese auf dem französ[ischen]. Schiff Champollion mit der Jugendalijah nach Palästina kam. Er hätte gerne Auskunft über HANS u. LOTTE MÜLLER, angeblich sein Onkel und seine Tante, die in BERLIN, in der BRITZERSTRASSE neben einer Schule einen Fleischerladen betrieben haben sollen. Die Eltern des Peter Salomon, HANS und LOTTE oder HILDE SALOMON, wurden kurz vor der Eroberung Berlins durch die Nationalsozialisten getötet. Sie sollen früher ebenfalls am THIELSCH-UFER gewohnt und nachher in die BRITZER STRASSE gezogen sein und ebenfalls das Fleischergewerbe [eine Zeile unleserlich]. Peter Salomon will einen Bruder, namens KURT SALOMON [gehabt] haben, der bei seiner Abreise 2 ½ Jahre alt gewesen sein soll und sich ebenfalls bei seiner Tante und seinem Onkel Hans Müller befunden haben soll. Als Pflegevater des Peter … wäre ich Ihnen zu grossem Dank verpflichtet, wenn Sie mir in der Angelegenheit helfen würden. Als besonderes Kennzeichen des Peter Salomon möchte ich noch erwähnen, dass er auf dem rechten Auge schielt.“

Erster Brief von Otto Schnitzler nach Berlin, 1947, S. 1
Erster Brief von Otto Schnitzler nach Berlin, 1947, S. 2

Antwort aus Amerika

Antwort kam zwei Monate später aus Philadelphia, USA, wo sich James (oder Hans) und Charlotte (oder Lotte) Salomon aus Berlin gerade mit ihrem Sohn Kurt niedergelassen hatten. Sie waren außer sich vor Freude, Peter wiederzufinden, hatten jedoch nicht die geringste Ahnung, wie er in Palästina gelandet war:

„Sehr geehrter Herr Schnitzler, Ihr so sehr ersehnter Brief erreichte uns hier in Philadelphia. Wir sind ja so glücklich, zu wissen, dass unser lieber Peter gesund und bei ihnen ist. Wir suchten das Kind in der ganzen Welt und niemand konnte uns Auskunft geben, wohin er kam. Ich möchte ihnen sagen warum er von uns fort kam. Peter Ruben Lewkowitz geb. am 21.5.38 in B[er]l[i]n ist unser Pflegekind, unser Name ist: James und Charlotte Salomon. Während der letzten Zeit im Hitlerstaat nannten wir uns Müller: Hans und Lotte Müller; und Peter war nun Peter Müller. So haben wir nun alle Grausamkeiten und Schreckliches überlebt als Familie.

Als nun der Krieg beendet war, zogen wir vom Thielsch-Ufer in die Britzer Straße in die Fleischerei, da mein Ehemann Fleischer ist. Peterchen wußte noch nichts vom Kriegsende, denn was wir erlebt haben war zu viel für diese kleine Kinderseele. Für ihn gab es nur diese Mörder, diese S.S.-Nazis. Um dem Kinde eine andere Umgebung und ein besseres Leben zu geben, schickten wir unseren Peter mit dem ersten Kindertransport vom 21.10.45 nach England.

Ich habe dort 2 Töchter und meine Schwiegermutter. Diese 3 Menschen wollten sich um das Kind sorgen und [es] zu sich nehmen, aber Peter war nicht aufzufinden. Im August 1946 schrieb ich nach England, es war nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, und bekam die Antwort am 2.8.47, dass Peter Ruben Lewkowitz nicht zu finden ist, sie geben sich alle Mühe. Nun endlich brauche ich nicht mehr zu suchen. Und wir sind [unleserlich] glücklich wie [letzte Seite des Briefes fehlt].“

Ottos Antwort und der darauf folgende Brief aus den USA sind nicht mehr vorhanden. Der nächste Brief ist datiert auf Februar 1948. Nach dem UN-Teilungsplan vom 23. November 1947, der im britischen Mandatsgebiet zwei Staaten schaffen sollte, einen arabischen und einen jüdischen, war Krieg zwischen Juden und Arabern ausgebrochen. Denn anders als die jüdische Führung, die sofort an die Errichtung eines Staates ging, lehnte die arabische Seite den Teilungsplan ab. Gewattätige Auseinandersetzungen, Anschläge und offene Kriegshandlungen waren die Folge. Verständlicherweise machten sich Salomons in Philadelphia Sorgen um Peter. Sein israelischer Pflegevater mühte sich, ihre Bedenken zu zerstreuen:

„Werte Familie Salomon, entschuldigen Sie bitte, wenn ich Ihnen Ihren lieben Brief vom 21. Januar erst jetzt beantworte. Ich hatte in der Zwischenzeit sehr viel zu tun, so dass ich einfach nicht zum Schreiben gekommen bin. Um sogleich [ein bis zwei Zeilen fehlen, vermutlich: zum Wichtigsten] zu kommen: [Peter geht] es sehr gut. Er ist fröhlich und lustig und macht häufig den Anführer seiner Kameraden bei Spielen und Tollereien in unserem Hof. Im Lesen und Schreiben macht er merklichen Fortschritt seit er von einer ehemaligen Lehrerin tagtäglich Nachhilfestunden erhält. In technischen Dingen ist er sehr geschickt, auch im Rechnen, während er für Sprachen weniger Neigung hat.

Was die allgemeine Lage hier anlangt, so glaube ich wohl, dass die Berichte in den Zeitungen (wie üblich) übertrieben sind. Hier in der Siedlung geht das Leben seinen gewohnten Gang und bis jetzt war alles ruhig. Sie brauchen also dieserhalb keine Sorge zu haben. Für die Kinder ist gut gesorgt.

Wie ich Ihnen bereits schrieb, kam Peter mit einem ganzen Kindertransport von Deutschland auf der Champollion. Die Kinder wurden auf verschiedene Siedlungen hier im Lande verteilt. Zu uns kam ausser Peter noch ein zweites Kind, Peter Goldmann aus Leipzig, der sich ebenso wie Ihr Peter gut eingelebt hat.

Peter wird sich freuen Sie hier, wenn die Lage sich gebessert haben wird, zu begrüssen. Vielleicht wird es Ihnen dann möglich sein, ihn zu besuchen. Das wäre alles für heute.
Freundlichen Gruss, Ihr Otto Schnitzler.“

Panzer im Dorf

Als Kommentar zu Ottos beschwichtigenden Worte zeichnete Peter auf der Rückseite des Briefes ein Haus, einen Panzer und einen Bewaffneten, der vom Panzer aus ein Flugzeug beschießt, das das Dorf überfliegt. Selbst die Kugeln der Gewehrsalven sieht man aus dem Lauf des Maschinengewehrs fliegen. Darüber schrieb er auf Hebräisch, der einzigen Sprache, die er schreiben konnte: „Shalom Mama, Shalom Papa, Shalom mein Bruder. Ich will Euch wiedersehen“.

„Shalom aba, shalom ima…“

Vier über die Welt verstreute Menschen fühlten sich offenkundig als Familie, vom Krieg getrennt. Eine Familie, deren älterer Sohn durch ein merkwürdiges Versehen nach Palästina gelangt war und in krakeligen Buchstaben einer neuen Sprache schrieb, wie er sie vermisste. Charlotte und Hans schrieben von sich immer nur als „Mutti“ und „Papa“, ihr Sohn Kurt, 1943 in Berlin geboren, ist „Peters kleines Brüderchen“.

Im August 1948 schrieb Charlotte einen weiteren Brief, in dem sie nochmals ihren großen Wunsch zum Ausdruck brachte, Peter wiederzusehen. Da der kleine Peter die begehrten ausländischen Briefmarken aus dem Aerogramm herausschnitt, einer Form des Luftpostbriefes, bei der der Briefbogen zusammengefaltet zugleich das Couvert bildete, kann man Teile des Textes nur durch geschicktes Raten rekonstruieren:

„Mein sehr lieber Mr. Schnitzler! auch my dear little Peter!
lange Zeit hörten wir nichts von [ein]ander und wir hoffen, dass alles [bestens] ist. Gottsei dank wir sind gesund und warten nur auf Nachricht von unserem lieben Peter.

Lieber Herr Schn[itzler], [wenn] es angebracht und angenehm [ist, möchte ich] meinem Peter etwas schicken [das er am] Nötigsten braucht[.] Wir wissen [dass Sie] für alles sorgen und doch glaube [ich, Peter]chen wird sich freuen, von uns [etwas zu] erhalten. Was macht die Schule? [unleserlich] sehr wichtig ist zu wissen [unleserlich]. Ist er brav? Und lernt er schon etwas besser? Denn ich denke, [er ist] kein dummer Junge und alt genug auch, um aufmerksam zu sein. Wie gern möchte ich den Jungen sehen, fragt er denn auch manchmal nach uns? und seinem Brüderchen Kurt?

Erzählen Sie doch bitte, dass Kurtchen sehr gut Englisch spricht und schon zur Schule geht und von seinem Bruder aus Palestine viel zu erzählen weiß. Wir waren sehr erfreut und glücklich, Palestine anerkannt [zu wissen] und wir hoffen, alles will sein zum besten. Möge Gott segnen alle Menschen, die ihr Leben dafür gaben. Wir haben uns nun so einigermaßen hier eingelebt. Das Klima macht uns nur etwas zu schaffen, aber auch das werden wir überwinden, denn so manchen Sturm haben wir überlebt, so werden wir auch dieses meistern. Wir erhielten heute Post aus Berlin, von Freunden, die uns während der sehr schlimmen Zeit halfen, auch sie freuen sich über die Nachricht von unserem Peter, dass er in Palestine lebt und einen guten Pflegevater hat.

Wenn es Ihnen möglich ist, lieber Herr Schnitzler, so bitte ich um Antwort, und hoffen wir recht baldige. Nun lieber Herr Schnitzler bleiben Sie recht gesund und seien Sie gegrüßt von ihren dankbaren Charlotte Hans und Kurt.

Für meinen Peter ganz besondere Grüße und Küsse und werde ein braver guter Junge, deine lieben Eltern wollen doch stolz auf Dich sein können. Möge Gott uns geben, recht bald alle wieder vereint zu sein. Deine Dich liebende und gute Mutti, Papa und Kurt.“

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