Mrs Wainwright, deportiert

Am selben Tag als Dani mir die Meldekarte der Familie Lewkowitz aus Posen schickte, erhielt ich eine Email aus Washington, DC. Es war die Antwort auf meine Anfrage beim US Holocaust Memorial Museum (USHMM) über Bestände des bisher unzugänglichen ITS Arolsen. Der nächste Meilenstein. Sechs Wochen nach meiner Anfrage schrieb mir das USHMM, es gebe eine Karte zu Ursula Lewkowitz im Zentralen Namensindex des Suchdienstes, und schickte mir diese als Scan. Auch zwei Karteikarten aus Berlin habe man gefunden, die ebenfalls der Email beigefügt wurden.

Während Institutionen wie das ITS Arolsen vor die Preisgabe ihrer kostbaren Archivalien hohe Hürden setzten, wie komplizierte Formulare, Berechtigungsnachweise und Vollmachten, und dabei vom Antragsteller Demut gegenüber dem Archiv einforderten, an dessen Spielregeln man sich zu halten hatte, bekam ich die gleichen Akten via Washington mit dem größtmöglichen Entgegenkommen und großer Freundlichkeit frei Haus. Als ich tatsächlich eine ganze Reihe Nachfragen hatte, rief mich die zuständige USHMM-Archivarin in Washington, nach vorheriger Klärung von Zeitzonen und Bürozeiten, schlicht und ergreifend an und erklärte mir alles.
Und Fragen ergaben sich aus der übersandten Karteikarte zu Ursula Lewkowitz in der Tat.

Karteikarte zu Ursula Lewkowitz, ITS Arolsen (Zentraler Namensindex, ZNI)

Eben noch waren wir sicher gewesen, dass Ursula nach England entkommen war. Die Karteikarte aus Arolsen warf alles wieder um. Denn auf ihr stand zweierlei: Ein englischer Nachname – “verh. Wainwright” – nebst ihrem schon bekannten Geburtsort und -datum. Doch darunter der Zusatz: “v. Berlin, dep.”. Nach Auskunft der amerikanischen Archivarin bedeuete dieses Kürzel genau das, was ich vermutete: von Berlin, deportiert.

War sie nach Nazideutschland zurückgekehrt? Um ihre Mutter und ihren Sohn nachzuholen? Doch wäre eine deutsche Jüdin, die es außer Landes geschafft hatte, auf so eine wahnwitzige Idee verfallen? Durften einmal emigrierte Juden überhaupt wieder ins Dritte Reich einreisen? Und nicht zuletzt: War damit Danis Shanghai-Theorie über den Haufen geworfen, da wir hier ein passendes Geburtsdatum hatten, während die Passagierliste aus San Francisco nur passendes Alter und Geburtsort enthielt? Alles löste sich in Möglichkeiten auf. Was war wirklich mit Ursula passiert? Hatte sie in England geheiratet und überlebt, war sie ins Dritte Reich zurückgekehrt und deportiert worden, oder doch nach Shanghai geflohen und von dort in die USA ausgewandert?

Auch die freundliche amerikanische Archivarin konnte nicht weiterhelfen. Es gäbe die unglaublichsten Lebensläufe, man könne nichts ausschließen. Auch die Möglichkeit nicht, dass die Karte falsche Informationen enthielte. Ich musste an die Quelle der Arolsen-Karte heran. „EA Berlin“ konnte die Archivarin in Washington auflösen: Es handelte sich um die Behörde, die ab Mitte der 1950er Jahre Anträge auf „Wiedergutmachung“ bearbeitete, wie die Bundesrepublik die Zahlungen an Verfolgte des NS-Regimes euphemistisch nannte.

Zu meiner Überraschung stellte sich heraus, dass das Entschädigungsamt Berlin immer noch existierte und sein Archiv selbst verwaltete. Das Prozedere zur Akteneinsicht war ganz made in Germany: Antragstellung auf Benutzung, Berechtigungsnachweis, einmal monatlich Akteneinsicht mit Termin. Immerhin hatte das Amt eine Emailadresse.

Die Karteikarte aus Berlin, die ich ebenfalls via Washington bekam, war nicht minder interessant. Es war offensichtlich eine alte Einwohnerkartei, die sämtliche Adressen auflistete, unter denen Ursula zwischen 1936 und 1939 gemeldet war. Vom 1. März bis zum 9. Juni 1938, also rund um Peters Geburt, hatte sie die mütterliche Wohnung auf dem Kudamm verlassen und war nach Wilmersdorf gezogen, in die Ravensberger Straße, die wir von Peters Geburtsurkunde kannten. Unter diesem Eintrag stand schlecht leserlich ein Name, Rinke? Linke?

Einwohnermeldekarte Ursula Lewkowitz (Vorderseite)
Einwohnermeldekarte Ursula Lewkowitz (Rückseite)

Das Berliner Adreßbuch half: “Simke, Berta Ww.”. Eine Wilmersdorfer Witwe, die in Berlin als besonders konservativ und gutbürgerlich galten, nahm 1938 eine achtzehnjährige, schwangere Jüdin als Untermieterin auf. Musste Ursula verschwinden, damit die Nachbarn auf dem feinen Kudamm nichts von ihrem Zustand mitbekamen? Oder verheimlichte sie gar der Mutter ihre Schwangerschaft?

Mit meinen Überlegungen kam ich nicht weit. Auch deswegen, weil sich schon am nächsten Tag das Entschädigungsamt meldete:
„Ich kann Ihnen mitteilen, dass für Frau Ursula Wainwright, geb. Lewkowitz hier ein Vorgang unter der Reg.Nr. 407 742 besteht. Ich werde mir die Akte aus unserem externen Archiv anfordern und mich wieder bei Ihnen melden, nachdem ich die Akte einsehen konnte.“

Die Ernüchterung folgte auf dem Fuße:
„Mir liegt nun die Akte mit der Reg.Nr. 407 742 vor. Leider muß ich Ihnen mitteilen, dass die Akte gemäß § 8 Abs. 3 des Gesetzes über die Sicherung und Nutzung von Archivgut des Landes Berlin noch der Schutzfrist unterliegt und somit weder Auskünfte erteilt werden dürfen noch Einsicht gewährt werden darf.“

Vor Wochen schon hatte ich Dani um Vollmachten von Peter gebeten und einen ganzen Stapel davon in der Schublade, mit denen ich den deutschen Amtsschimmel fütterte. Mit welcher Begründung wollte man mir, mit einer Vollmacht des Sohnes ausgestattet, die Einsichtnahme verweigern? Der zitierte § 8 Abs. 3 des Archivgesetzes besagte nämlich: „Die Schutzfrist gilt nicht für die Nutzung durch die Betroffenen oder ihre Angehörigen.“ Der Mitarbeiterin des Entschädigungsamtes war die Sache unangenehm. Da man nicht wisse, ob die Mutter noch lebe und wolle, dass ihr Sohn Einsicht bekäme, müsse man die Anfrage abschlägig beantworten. Sie lege jedoch den Fall ihrem Vorgesetzten vorg. Ich durchforstete gedanklich meinen Bekanntenkreis nach Rechtsanwälten.

Doch einstweilen half alles nichts: Die Lösung des Rätsels „v. Berlin, dep.“ musste warten.

(12/x)

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Familie Lewkowitz

Während ich vom Bundesarchiv den ersten Meilenstein per Post bekam, war Dani nicht untätig. Er hatte seine Fühler nach Posen ausgestreckt, noch bevor klar war, ob die englische Ursula tatsächlich die Gesuchte war. Ein polnischer Historiker besorgte ihm aus dem Posener Staatsarchiv eine Kopie der Einwohnermeldekarte einer Familie Lewkowitz – und BINGO.

Die handschriftlichen Einträge, die ich mit viel Geduld und Spucke entzifferte, gaben Gewissheit, dass die Frau, die mit Ursula zusammen in der Volkszählung erfasst worden war, tatsächlich ihre Mutter war. Plötzlich lag da die ganze Familie ausgebreitet – Vater Simon, Mutter Sara, und Ursulas zehn Jahre älterer Bruder Max. Selbst die Eltern des Vaters waren genannt, Mendel und Rosalie, geborene Posener, sowie ein weiterer Bruder, der nur einen Tag gelebt hatte. 1921 war die Familie nach Berlin gezogen, vielleicht weil Posen nach dem Ersten Weltkrieg polnisch wurde. Der Vater Simon hatte in Posen ein Schuhgeschäft gehabt und seine Frau Sara 1883 geheiratet, in ihrem Heimatort Miloslaw.

Einwohnermeldekarte der Familie Lewkowitz, Staatsarchiv Poznan

Simon, Sara, Max Lewkowitz: kein Eintrag im deutschen Gedenkbuch, keiner bei Yad Vashem oder in anderen Datenbanken – nichts. Konnte die ganze Familie den Holocaust überlebt haben? Doch Sara hatte ich gerade im Berliner Adressbuch als „Witwe“ gefunden, ihr Mann Simon musste also vor 1943 verstorben sein. So fand ich schließlich, Jahr um Jahr rückwärts blätternd, auch Simon Lewkowitz und sein Berliner Schuhgeschäft, das ab 1921 im Adressbuch stand. Ab 1932 war nur noch das Geschäft gelistet, 1937 hörten auch diese Einträge auf. Seine Frau Sara war allein 1935 im Namensverzeichnis zu finden: “Ww., W 15 Kurfürstendamm”. Im nach Straßen geordneten Teil tauchte sie erst ab 1939, doch dann durchgängig bis 1943 als “Lewkowitz, S., Ww.” auf dem Kudamm auf. Auf diese Weise ließ sich Simons Sterbedatum auf die Jahre zwischen 1932 und 1935 einkreisen.

Bis vor kurzem hatte Peter von seiner Mutter nicht mehr als deren Namen gewusst. Nun hatte er bereits Großeltern und Onkel. Vermutlich alle tot, aber: nunja.

(11/x)

Volkszählung ’39

Der erste richtige Durchbruch kam aus einer anderen Richtung, zwei Tage nachdem mir Dani die Shanghai-Theorie unterbreitet hatte. Das größte Problem war das Fehlen von Daten zu Peters Mutter. Sie stand in keinem Adressbuch, in keiner Datenbank von Opfern oder Überlebenden, in keinem weltweiten genealogischen Verzeichnis. Aber ohne Geburtsjahr und -ort konnten auch die Standesämter nicht weiterhelfen.

Auf der Suche nach weiteren Quellen war ich auf eine sehr spezielle Sammlung von Personendaten im Deutschen Reich gestoßen, der Volkszählung 1939.

Ziel dieser Volkszählung im Mai 1939 war die lückenlose Registrierung aller Juden, die trotz der Verfolgungsmaßnahmen immer noch im Deutschen Reich lebten. Zu diesem Zweck musste jeder Haushalt eine Karteikarte mit Namen, Anschrift, Konfession und Bildungsgrad seiner Mitglieder ausfüllen. Auf einer separaten Karte musste jede Person angeben, wieviele Großelternteile den Nürnberger Gesetzen nach „der jüdischen Rasse“ angehört hatten. Diese Ergänzungskarten zur Volkszählung 1939 befinden sich heute im Bundesarchiv Berlin und enthalten Namen, Geburtsdatum und -ort, Wohnanschrift zum Zeitpunkt der Volkszählung sowie die Anzahl der jüdischen Großelternteile.

Ergänzungskarte der Volkszählung 1939 für Leo Baeck; Quelle: Bundesarchiv

Wegen des schlechten Zustands der Karten war die Einsicht in die Originale nicht möglich. Das Bundesarchiv hatte jedoch aus den Ergänzungskarten eine Datenbank zusammengestellt und um andere Personendatenquellen zu einer „Liste jüdischer Residenten im Deutschen Reich 1933-1945“ ergänzt. Im Gegensatz zur Gedenkbuch-Datenbank enthielt diese „Residentenliste“ auch Informationen über Personen, die den Holocaust überlebt haben. Daher war sie nicht online zugänglich, denn einige dieser Personen leben noch und haben ein Recht auf den Schutz ihrer persönlichen Daten.

Das Bundesarchiv gab jedoch schriftlich Auskünfte aus der Datenbank, und so kam zwei Wochen später Antwort:
„In den Ergänzungskarten für Angaben über Abstammung und Vorbildung (Volkszählung vom 17. Mai 1939), enthalten im Bestand R 1509 Reichssippenamt, konne ich Ursula Lewkowitz ermitteln. Wie Sie aus beiliegender Kopie ersehen, wohnte sie mit Sara Lewkowitz in einem Haushalt. Peter Ruben Lewkowitz befand sich am 17.05.1939 im Säuglings- und Kinderheim Moltkestr. 8/11.“

Als ich das Schreiben aus dem Briefkasten zog, dauerte es etwas bis ich begriff, welchen Fortschritt das bedeutete. Zum ersten Mal hatten wir einen Nachweis der Existenz von Peters Mutter jenseits seiner Geburtsurkunde. Wir wussten nun sogar den Namen einer Angehörigen, vielleicht ihrer Mutter. Zudem hatte Hans Salomon nicht gelogen als er angab, dass das Kind aus dem Kinderheim kam. Das Jüdische „Säuglings- und Kinderheim“ befand sich in Berlin-Niederschönhausen, genau wie er 1958 an Dr. Bloch geschrieben hatte.

Das Bundesarchiv hatte über diese drei Personen weitere Information aus den Ergänzungskarten zur Volkszählung und schickte einen Auszug aus der Datenbank:

Recherche in: Berlin
Name: Lewkowitz Sara
Mädchenname: Posener Geburtsdatum: 25.06.1883
Geburtsort: Miloslaw, Abstammung: JJJJ
Wohnort: [Berlin-]Charlottenburg
Anschrift: Kurfuerstendamm 38

Recherche in: Berlin
Name: Lewkowitz Ursula
Mädchenname: Geburtsdatum: 22.11.1919
Geburtsort: Poznan (Posen), Abstammung: JJJJ
Wohnort: [Berlin-]Charlottenburg
Anschrift: Kurfuerstendamm 39

Recherche in: Berlin
Name: Lewkowitz Peter
[handschriftlich hinzugefügt:] Ruben
Mädchenname: Geburtsdatum: 22.05.1938
Geburtsort: Berlin Abstammung: JJJJ
Wohnort: [Berlin-] Niederschoenhausen
Anschrift: Moltkestr. 8/11, Heim für Säuglinge und Kleinkinder

Geburtsort und -datum waren mit denen der in England als „Enemy Alien“ registrierten Ursula identisch. Peters Mutter war tatsächlich nach England entkommen und hatte dort aller Wahrscheinlichkeit nach den Krieg überlebt. Sie war nicht ermordet worden sondern vielleicht noch am Leben. Die Vision, den siebzigjährigen Sohn mit seiner neunzigjährigen Mutter bekanntzumachen, wurde zu einer Möglichkeit. Die Vorstellung machte mich etwas schwindlig.

Provinz Posen um 1905, Miloslaw rot unterstrichen; via Wikipedia

Und wer war Sara Lewkowitz, geb. Posener, 1883 in Miloslaw geboren? Den kleinen Ort Miloslaw fand ich in der ehemaligen Provinz Posen, heute Polen. Auch die englische Ursula von 1939 stammte aus Posen. War Sara Ursulas Mutter? Auch die Wohnanschrift verriet etwas über die beiden Frauen. Der Kurfürstendamm, Berlinern als Kudamm bekannt, war und ist eine der feinsten Adressen des alten Westberlins. Wenn Ursula und Sara auf diesem Boulevard gewohnt hatten, waren sie vermutlich nicht aus armen Verhältnissen. Dennoch hatten sie zu einem unbestimmten Zeitpunkt beschlossen, den kleinen Peter ins Heim zu geben.

Als ich Sara Lewkowitz in den zeitgenössischen Berliner Adressbüchern suchte, fand ich – keinen Eintrag. Erst als mir die Idee kam, es im Teil zu versuchen, der nach Straßen geordnet war, fand ich sie an der angegebenen Adresse: „Lewkowitz, S., Ww.“, von 1939 bis zum letzten Berliner Kriegsadressbuch 1943 stets mit der Anschrift auf dem Kudamm. Sie war also verwitwet, wie das „Ww.“ (Witwe) sagte. Falls sie tatsächlich Ursulas Mutter war, musste der Vater vor 1939 verstorben sein. Nach ashkenasischer Tradition hätte Peters zweiter Vorname Ruben der des Großvaters sein können. Meine Eingebung, Ruben Lewkowitz in den gängigsten Datenbanken zu suchen, lief jedoch ins Leere. Wenig verwunderlich, denn Sara Lewkowitz konnte schlicht eine beliebige weibliche Verwandte von Ursula sein.

Im Schwung der Begeisterung, endlich verlässliche Daten über Peters Mutter gefunden zu haben, übersah ich zunächst die zweite wichtige Information, die das Schreiben vom Bundesarchiv enthielt. In der Residentenliste, so schrieb die Archivarin, habe sie auch einen Datensatz über einen Jungen namens Peter Salomon gefunden, geboren am selben Tag wie Peter Ruben Lewkowitz in Berlin. Doch sie könne nicht entscheiden, ob es sich um die selbe Person handelte, und bat mich, ihr mitzuteilen, was ich über eine mögliche Identität wüsste. Da das Schreiben eine Telefonnummer enthielt, griff ich zum Hörer und versuchte zu erklären, wieso beide Peters höchstwahrscheinlich identisch waren, und fragte nach der Herkunft der Daten über Peter Salomon. Denn dies war – ebenso wie der erste Beleg der Existenz von Ursula jenseits der Geburtsurkunde ihres Sohnes – der erste Nachweis, den wir über Peters Zeit bei der Familie Salomon hatten.

Die freundliche Archivarin konnte mir jedoch nicht weiterhelfen, der Datensatz stammte offenbar von einer anderen Institution und enthielt nichts weiter als Name und Geburtsdatum. Sie verwies mich ans Landesarchiv Berlin, das ihrer Ansicht nach diesen Teil der Datenbank erarbeitet hatte.

(10/x)

Die wahre Lebensgeschichte

Je mehr ich über untergetauchte Juden in Berlin las, desto weniger war vorstellbar wie eine vierköpfige Familie, deren Ernährer bei der jüdischen Gemeinde gearbeitet hatte und vielen bekannt gewesen sein musste, nur mit einem falschen Namen in der Illegalität hätte überleben können.

Anhand eines alten Berliner Stadtplans stellte ich fest, dass beide Adressen der Familie kaum fünfzig Meter von der Synagoge entfernt waren, in der Hans Salomon gearbeitet hatte. Die Adresse, an der sie die längste Zeit gewohnt hatten, befand sich direkt auf dem Gelände der Synagoge und war vermutlich die Hausmeisterwohnung.

Als nun der Krieg beendet war

Offenbar hatten sie die erst nach Kriegsende verlassen, denn Charlotte schrieb in ihrer ersten Antwort an Otto 1947: „Als nun der Krieg beendet war, zogen wir vom Thielsch-Ufer [der Synagoge] in die Britzer Straße in die Fleischerei“. Obwohl das Hauptgebäude im November 1938 von den Nazis niedergebrannt worden war und die Ruinen in den 1950er Jahren abgerissen wurden, existierte an der selben Adresse auch heute noch eine Synagoge mit einer lebendigen, wachsenden Gemeinde.

Synagoge Fraenkelufer (eh. Cottbusser Ufer, von 1937 bis 1947 Thielschufer, nach einem ermordeten SA-Mann) (Wikipedia, CC BY-SA 3.0)

Offenbar fehlten in Hans’ Bericht wichtige Teile, wie der von Peter erwähnte Gestapomann. Auch die Schilderung, wie die Eheleute Peter „adoptierten“, wirkte lückenhaft und widersprüchlich – konnten sie das Kind nun adoptieren oder wurde ihnen dies verweigert? Auf welcher Rechtsgrundlage nahmen sie den Jungen zu sich? Wer vermittelte ihnen das Kind, die jüdische Gemeinde oder die „städtischen Behörden“? Wie konnten sie für eine Adoption oder Pflege des Kindes „keinerlei Papiere“ bekommen, in der deutschen Bürokratie? Wer waren die Zeugen, die später niemals in Erscheinung traten, um Zeugnis abzulegen? Was verband sich hinter der Formulierung „da es ja unser Kind war“?

Peters Ziehvater Otto hatte offenbar den gleichen Eindruck – Hans Salomon erzählte nur die halbe Wahrheit. So entschied sich Otto, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und übergab den Fall einer Hilfsorganisation, die jüdischen Opfern des NS-Regimes half, ihre Ansprüche bei deutschen Entschädigungsämtern durchzusetzen, der sogenannten URO oder United Restitutions Organization, die Antragsteller bei ihrem Weg durch den Behördendschungel der Wiedergutmachung unterstützte.

Dr. Samuel Bloch, ein deutschstämmiger Rechtsanwalt, der für das Büro der URO in Haifa arbeitete, ließ Hans Salomon nicht mit wachsweichen Erklärungen davonkommen. Blochs Schreiben an ihn ist nicht erhalten, aber Hans Antwort vom Juli 1958, in der er schwor, nun „die wahre Lebensgeschichte unseres lieben Sohnes Peter“ zu erzählen:

Erste Seite von Hans Salomons Brief an Dr Roch von der URO, Juli 1958

„Ich will Ihnen, werter Dr. Bloch, die wahre Lebensgeschichte unseres lieben Sohnes Peter schildern.

Im Februar 1939 schickte ich meine liebe Mutter von Berlin nach Manchester (England). Im Mai 1939 gab ich meine beiden Töchter (9 und 11 Jahre) mit dem letzten jüdischen Kindertransport nach England. In der Hoffnung, bald nachzufahren, dauerte meine Einreise nach England zu lange und ich mußte die elende Zeit dort verbleiben bis zum Jahre 1947 Oktober, wo wir nach America als Displaced Persons auswanderten. Schon in guten Zeiten gingen meine liebe Frau und ich fast jeden Monat in jüdische Waisenhäuser und verbrachten dort eine Zeitlang, wo wir Kuchen und Spielsachen kauften und erfreuten uns mit den lieben Kindern. Wir hatten auch immer den Wunsch, einen kleinen Jungen aus dem Jüdischen Waisenhaus zu uns heim zu nehmen. Als unsere beiden Mädels nach England abreisten, gingen wir sofort nach dem Jüdischen Waisenhaus, Berlin-Niederschönhausen, und adoptierten unseren lieben kleinen Peterle durch die Jüdische Gemeinde zu Berlin. Unser Peterle ist sofort polizeilich gemeldet worden. Der Chef des Polizei-Reviers war mein persönlicher Freund. Wir konnten zu damaliger Zeit keine Adoption vornehmen, die uns abgelehnt wurde. Das gesamte Jüdische Waisenhaus mit Schwestern und Kindern wurde von den Verbrechern abgeholt und wie wir gehört haben ist niemand zurück gekommen. Peter ist so der einzige Überlebende. Der schreckliche Terror hatte eine Ende und wir hatten schon immer die Absicht nach America zu gehen, wo wir viele Freunde und Verwandte haben. Unser geliebter Sohn hatte das feinste was nur ein Kind haben könnte. Alle Menschen haben unseren kleinen Kerl bewundert. Inzwischen hat unser Peterle ein Brüderchen bekommen. Die Leute sagten immer, Peterle sieht aus wie der Vater und Kurt wie die Mutter. Wir waren sehr stolz auf unsere Jungens. So hatten wir glückliche Stunden mit unseren beiden Jungens.
Peterle ist ein uneheliches Kind, welches die Mutter gleich nach der Geburt ins Waisenhaus gab, wo wir unsren lieben Peterle bald abholten, so dass niemand etwas wußte. Ich hoffe, dass der liebe Peter niemals etwas davon erfährt. Wir bitten darum.

Eines Tages kamen zwei Herren zu uns ins Haus, den einen kannten wir gut, derselbe lebt jetzt in Pittsburgh (Pa.) hier. Sie sagten folgendes: Wir haben gerade erfahren, dass 5 Kinder nach England fahren und da ihr doch später nach England zu Euren Lieben fährt um sie nach America mitzunehmen, läßt den kleinen Peterle mitfahren und ihr spart dadurch ein Fahrticket. Schreibt Euren Lieben, dass Peterle hier dann und dann abfährt und Sie sollen Ihn da in Empfang nehmen. Meine liebe Frau und ich haben noch mit Bekannten den Fall besprochen und wir gaben die Einwilligung, gaben unserem lieben Jungen das schönste und Beste mit. Von unserem lieben Peterle hörten wir 2 Jahre nichts. Wir haben alle Beweise hier. England teilte uns mit: das Home Office, unsere Lieben drüber, das Rote Kreuz, die ganze Welt haben wir abgesucht. Meine liebe Frau wurde sehr schwer krank. Wenn die HIAS und alle anderen Menschen nicht gesorgt hätten, wir würden heute nicht hier sein. Der americanische Konsul konnte es verstehen. Er ist and will be our golden good Peterle [hier die Handschrift kritzelig und fast unlesbar, der letzte halbe Satz auch im Original auf Englisch]

Gleich nach Ankunft hier hat meine liebe Frau eine schwere Operation auf Leben und Tod durchgemacht im Mount Sinai Hospital zu Philadelphia. Einen Tag bevor unser Abreise nach America brachte der Postbote uns einen Brief von Palästina. Den Brief besitzen wir, wir wollen denselben hier veröffentlichen und haben noch mehrere Sachen gesammelt, warten jetzt auf Ihre werte Antwort. Herzzerreißend. Unser lieber guter Junge muß furchtbar angegeben haben und große Sehnsucht nach seiner lieben Mutti, Bruder und nach mir gehabt haben, sodaß sich ein Herr erbarmt hat und uns den Brief zugesandt hat. Bei den jüd. Bekannten und anderen hießen wir Salomon, bei den Verbrechern und Unbekannten „Müller“. So hatte der Brief die Adresse Müller’s Fleischerei neben der Schule. Ich habe gleich nach dem Kriege wieder eine Fleischerei eröffnet und unser guter lieber Junge hatte es nicht vergessen, was wir ihm gelernt haben. Briefe haben wir unserem lieben Peter geschrieben und Pakete, niemals haben wir ein Lebenszeichen von ihm erhalten. Unser lieber guter Peter braucht niemanden auf der Welt, weder Geld noch sonst etwas. Alles was unser lieber Junge braucht, [sind] seine sich um ihn sorgende Mutti, Papa und Bruder Kurt.

Lieber Herr Dr. Bloch, ich kann Ihnen mitteilen, dass meine liebe Frau, ich und der Junge sehr unglücklich sind und solche Sehnsucht nach unserem guten Peterle [haben]. Vielleicht können Sie uns, werter [Dr. Bloch,] unseren geliebten Jungen wieder [zurück]bringen und dadurch eine große Freude machen. Wir haben ein wunderschönes [Haus], aber es ist einsam. Vielleicht kommt [unser] Sonnenschein wieder in unser Haus.

Dies ist die wahre Geschichte unseres geliebten Sohnes Peterle. Bitte erkundigen Sie sich beim Council of Jewish Women of Philadelphia and [?? – ein Wort unleserlich] Rabbi in Philadelphia. Wir warten sehnsüchtig auf Ihre Antwort und im Voraus bestens dankend auch von meiner lieben Frau, Ihr dankbarer, James Salomon.“

Wieder sprach Hans von seinem früheren Pflegesohn wie von einem eigenen Kind. Selbst wenn durch die gemeinsame Zeit als Familie, bei permanter Bedrohung von Außen, eine starke Bindung entstanden sein musste, blieb merkwürdig, dass Hans Salomon von Peter nie anders als von seinem „eigenen Sohn“ sprach. Sogar eine physische Ähnlichkeit habe es gegeben: „Die Leute sagten immer: Peterle sieht aus wie der Vater und Kurt wie die Mutter“. Hans bat sogar den Rechtsanwalt der URO um Hilfe, um „seinen“ Sohn wiederzubekommen, obwohl Dr. Bloch der Anwalt der Gegenseite war.

„Die Leute sagten immer: Peterle sieht aus wie der Vater und Kurt wie die Mutter“

Bei der Lektüre dieses Briefes empfand man Mitleid für den Mann, der so verzweifelt versuchte, ein Kind zurückzubekommen, das nicht seins war, zu dem er jedoch offenbar eine Bindung hatte, die stärker als jede Blutsbande war. Juristisch hatte er keine Chance. Sein vergeblicher Appell, seine Erwähnung rechtlicher Schritte und der Presse, an die er sich wenden werde, verstärkten den Eindruck der Verzweiflung. Zugleich war deutlich, dass er Fakten zurückhielt und übertrieb – sein „niemals haben wir ein Lebenszeichen von ihm erhalten“ war angesicht der erhaltenen Briefe von Otto unwahr.

Hans’ Erklärung der Tatsache, dass sie 1939 ein Kind aus dem Heim zu sich holten, war ebenso unbefriedigend. Warum würde ein jüdisches Ehepaar, das es gerade geschafft hatte, seine eigenen Kinder außer Landes zu bringen, das Risiko eingehen, ein weiteres jüdisches Kind aufzunehmen – noch dazu, da die Eheleute selbst als Juden weiterhin gefährdet waren? Konnte jemand so altruistisch sein, trotz eigener Gefährdung aus ganz selbstlosen Gründen ein elternloses Kind zu sich zu nehmen und zu beschützen?

Die ganze elende Zeit

Noch rätselhafter waren die Umstände ihres Überlebens in Berlin. „Ich mußte die elende Zeit dort verbleiben“ war alles, was Hans dazu zu sagen hatte. Seine Schilderung klang über weite Strecken so, als habe es keine Nazis gegeben, als seien dies im Grunde Zeiten wie alle anderen gewesen.

Bei all dem nannte Hans Salomon allerdings auch Fakten, die dem Puzzle wichtige Teile hinzufügten. Das Ehepaar Salomon holte den Jungen zu einem nicht genauer bezeichneten Zeitpunkt nach Mai 1939 aus dem jüdischen Kinderheim in Berlin-Niederschönhausen. Hans behauptete, Peter sei ein uneheliches Kind gewesen, das die Mutter „bald nach der Geburt“ ins Kinderheim brachte – ohne Belege zu nennen. Da Peter im Mai 1938 geboren wurde, mochte er ungefähr ein Jahr im Heim verbracht haben. Hans sagte auch, dass die Kinder und Pflegerinnen sämtlich deportiert und ermordet worden seien, wodurch Peter zum einzigen Überlebenden und die Salomons zu seinen Rettern würden. Und obwohl der genannte Chef des Polizeireviers nicht mit dem Gestaponachbarn identisch sein musste, an den Peter sich erinnerte, war dieser Kontakt mit Sicherheit hilfreich dabei, die bürokratischen Hürden zu meistern, um das Kind – in welcher Form auch immer – in die Familie aufzunehmen. Ebenso schilderte Hans in diesem Brief zum ersten Mal die Umstände der Abreise des Jungen aus Berlin, doch erklärte das noch nicht, wie Peter schließlich nach Palästina gelangte – statt nach England, wie die Salomons offenbar beabsichtigt hatten.

(9/x)

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Taucher und Greifer

Für Juden, die der Verfolgung durch Abtauchen zu entgehen versuchten, bot Berlin als Großstadt bessere Überlebenschancen als ländliche Gegenden. Es gibt viele Berichte über Juden im Berliner Untergrund und Erinnerungen von Menschen, die in der Illegalität überlebten. Der wohl bekannteste war der spätere Showmaster Hans Rosenthal, der sich in einer Schrebergartenkolonie versteckte.

Hans Rosenthal in einer Liste von Überlebenden in der jüdischen Zeitung Aufbau vom 28.12.1945

Die „Taucher“, wie sie genannt wurden, lebten in permanter Angst, mussten ihr Quartier oft täglich wechseln und hausten mal bei Bekannten oder in konspirativen Wohnungen, dann wieder in Parks, Garagen oder auf Friedhöfen, wo sie den Bombenangriffen sowie Wind und Wetter ausgeliefert waren.

Sie hatten keine andere Wahl als für die Versorgung mit Essen und dem Lebensnotwendigsten auf die Hilfe nichtjüdischer Menschen zurückzugreifen, da man bald ohne Lebensmittelmarken und Bezugsscheine kaum noch etwas kaufen konnte. In seinen Lebenserinnerungen „Zwei Leben in Deutschland“ hat Hans Rosenthal diese Zeit eindringlich beschrieben – der SWR hat in seinem Archiv ein Gespräch dazu mit ihm aufbewahrt.

In den letzten Kriegsjahren presste die Gestapo eine Reihe meist junger Verfolgter zu Spitzeldiensten, um die Illegalen aufzuspüren. Diese „Greifer“ verrieten Menschen für das Versprechen, von der Deportation verschont zu bleiben. Die Enttarnten wurden meist ohne Aufschub nach Auschwitz geschickt.

Die berühmteste Greiferin war Stella Kübler. Die faszinierende Geschichte der schönen blonden, blauäugigen Jüdin, die von den Nazis umgedreht und zur Denunziantin gemacht wurde, ist vielfach literarisch bearbeitet worden. Peter Wyden, einer ihrer ehemaligen Mitschüler in Berlin, widmete ihr ein berührendes Sachbuch, Takis Würger einen erfolgreichen, nicht unumstrittenen Roman, ja sogar zu einem Theaterstück taugte ihr Leben. An der Figur Stella lässt sich nämlich all das festmachen, was für Überlebende und deren Nachkommen zur Gretchenfrage wurde: Wer war unschuldig und wer hatte um zu überleben mit den Nazis zusammegearbeitet?

Um nichts weniger drehte sich die Frage, wie die Salomons es geschafft haben konnten, mit einem jüdischen Pflegekind und einem eigenen Baby den Krieg mitten in Berlin zu überleben.

(8/x)

Last Exit Shanghai

Die Geschichte drehte sich im Kreis. Ohne exakte Angaben über Ursula, Peters ledige Mutter, war das Rätsel seiner Herkunft nicht zu lösen. Immer stärker wurde die Vermutung, dass ihre Identität auch der Schlüssel zum Verhalten der Familie Salomon war.

Gleich als Dani mir die ersten Angaben geschickt hatte, hatte ich einen Suchantrag beim Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes (ITS) in Bad Arolsen gestellt. Diese bemerkenswerte Institution, nach dem Krieg tatsächlich ein Suchdienst zur Zusammenführung im Krieg getrennter Familien, befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem in ihrer Geschichte einmaligen Umbauprozess.

Das Archiv des ITS verfügte über Akten von Konzentrations- und Zwangsarbeiterlagern, Informationen aus der Nachkriegszeit zu Überlebenden in den Besatzungszonen, sowie über andere wertvolle Bestände, die man nach dem Krieg zusammengetragen hatte, um alles zu bündeln, was bei der Suche nach Angehörigen helfen konnte. Auch alle je gestellten Suchanfragen wurden archiviert. 26 Kilometer Archivalien mit Informationen über 17.500 Personen und damit das größte Archiv zur Geschichte des Holocausts.

Historical photo of ITS: staff members researching individual fates
Foto: Gzwilling, Lizenz: CC BY-SA 4.0, Original hier.

Doch bis Ende 2007 war dieses wichtige Material für die Öffentlichkeit nur schlecht zugänglich. Lediglich Angehörige, die nach vermissten oder verschollenen Personen suchten, konnten auf Antrag Auskünfte erhalten, und selbst dieses Verfahren war kompliziert und der Bearbeitungsstau enorm. Im März 2006 berichtete die Washington Post, dass hunderttausende Opfer und ihre Angehörigen bereits jahrelang auf Antwort warteten. Ein paar Jahre zuvor hatte ich in meiner ersten Recherche für Dani versucht, Informationen vom ITS-Archiv zu erhalten. Als mir mitgeteilt wurde, dass die Antwort bis zu vier Jahren dauern könnte, gab ich auf.

Opferorganisationen und Historiker:innen beschwerten sich auch öffentlich über diese restriktive Politik und forderten eine Öffnung der Bestände. 2007 stimmte das Internationale Kommittee vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf, der Träger des ITS-Archivs, endlich zu, Kopien der Akten an Archive und Institutionen der Holocaust-Forschung weiterzugeben, wie Yad Vashem und das US Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington. Ab November 2007 konnte man Auskünfte über ITS-Bestände vom amerikanischen USHMM erhalten, ohne das komplizierte Verfahren in Bad Arolsen, und ich versuchte mein Glück via Internet und Email mit Anfragen zu Peter und Ursula Lewkowitz.

Währenddessen machte Dani einen überraschenden Fund. Wir dachten beide, dass es angesichts der vielen Datenbanken zu Holocaust-Opfern und Überlebenden unwahrscheinlich war, dass Ursula umgekommen war, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Es gab nur wenige Erklärungen für ihr Fehlen: Sie konnte sich umgebracht haben – doch wir hatten die jüdischen Friedhöfe in Berlin überprüft -, sie konnte aus Deutschland entkommen oder in der Illegalität überlebt haben – doch in keiner Nachkriegsliste von Überlebenden tauchte sie auf. Die dritte und wahrscheinlichste Möglichkeit war, dass sie ihren Namen geändert hatte, zum Beispiel durch Heirat.

Also begann Dani, nach einer verheirateten Ursula zu suchen. Er nahm an, dass Peters Mutter in der Tat diejenige war, die 1939 in England aktenkundig geworden war, und suchte in genealogischen Datenbanken nach Frauen mit Vornamen Ursula, die 1919 in Posen geboren worden waren.

Und tatsächlich: Auf der Passagierliste eines Schiffes, das 1948 von Shanghai kommend in San Francisco anlegte, fand sich eine vierköpfige Familie, auf die die Beschreibung passte. Die 30jährige Ursula Wiener und ihr 48jähriger Ehemann Paul hatten offenbar die Kriegsjahre in Shanghai verbracht, dem einzig verbliebenen Zufluchtsort für Juden, die für andere Emigrationsländer kein Visum erhielten.

Passagierliste bei der Einreise nach San Francisco: Paul und Ursula Wiener mit Sohn Peter.

In San Francisco landeten die Wieners mit ihren beiden Söhnen im Alter von acht Jahren und drei Monaten. Der Achtjährige hieß Peter. Ursula, deren Mädchenname ungenannt blieb, war 1919 in Posen geboren. Es sah aus, als hätten wir sie gefunden.

Dani war begeistert: „When we look at the name and birth date of the older son Peter, it rings a bell, doesn’t it? Now let’s speculate wildly and say that shortly after the birth of our Peter his mother escaped to England, was registered as Enemy Alien and a little later got married to Paul Wiener. When she gave birth to their new baby boy, she called him Peter, after her lost child in Berlin. Now we only have to find something to confirm that Ursula Lewkowitz is Ursula Wiener, maybe a marriage document.“ Sogar die beiden Söhne von Ursula und Paul hatte er im amerikanischen Telefonbuch aufgestöbert.

Die Übereinstimmung war frappierend. Doch warum hätte Ursula, nachdem sie ins sichere England gelangt war, nach Shanghai weiterreisen sollen, wo die verzweifelten jüdischen Emigranten in überfüllten Quartieren ohne Arbeitsmöglichkeit mehr vegetierten als lebten? Falls wirklich sie es war, die im November 1939 als „Enemy Alien“ registriert worden war, hätte sie nach Ausbruch des Krieges überhaupt eine Schiffspassage nach Shanghai buchen können?

Trotz meiner Zweifel überlegte ich, die Söhne der Wieners in den USA anzurufen, entschied mich dann aber für einen weniger aufdringlichen Brief, dem ich eine Kopie von Peters Geburtsurkunde beilegte. Auch auf diesem Weg würde sich hoffentlich herausstellen, ob die Shanghai-These eine Schnapsidee oder ein Durchbruch war.

(7/x)

In einem Garten in Berlin

Der Junitag war heiß, Frühsommer in Berlin. Mein Kopf war matschig und alles klebte. Ich sehnte mich nach einem schattigen Plätzchen, einem kühlen Getränk, einer Dusche. Aber später.

Kudamm 39

“Roses Trémières” by Berthe Morisot

Seit Stunden wanderten wir den Kudamm auf und ab auf der Suche nach dem Haus, in dem Peters Mutter und Großmutter gewohnt hatten, damals, 1939. Wie schwer konnte es sein, ein Haus auf der bekanntesten Straße Westberlins zu finden. Doch wo ich die Adresse auf der Karte markiert hatte, befand sich ein ästhetisch anspruchsloses Nachkriegsgebäude, ein gesichtsloser Firmensitz. Natürlich konnte das Haus im Krieg zerstört worden sein. Doch ich vermutete, dass man nach 1945 die Hausnummern neu vergeben hatte, und suchte nach verblichenen Nummern; vergeblich.

Da befanden wir endlich am Ort des Geschehens, und ich war nicht in der Lage, ein Haus zu finden. Sehr ernüchternd. Die Israelis hatten weniger Probleme mit der Hitze als ich. Sie waren auch viel weniger frustriert. Für sie war alles in Berlin neu und aufregend, während ich in meiner Rolle als Guide gerade schwitzend versagte. Doch merkte ich, dass auch Sarah nicht mehr konnte. Immer öfter blieb sie zurück und winkte uns fröhlich, nicht auf sie zu warten. Nicht nur ich, auch meine siebzigjährigen Begleiter brauchten eine Pause.

In einer Seitenstraße fand ich ein Café, eine alte Villa mit Terrasse und Tischen unter hohen Bäumen. Doch als wir uns dem Garten näherten, waren alle Tische besetzt. Unschlüssig standen wir im Schatten. Den anderen Gästen ging es wie uns; sie dachten nicht daran, ihre Plätze zu räumen. Keinen Meter würde ich mehr laufen, soviel stand fest. Kurzentschlossen bat ich einen allein sitzenden Gast, seinen mit Papieren übersäten Tisch mit uns zu teilen. Widerwillig blickte er von seiner Arbeit auf, die er in den lauschigen Garten verlegt hatte. Wir störten. Doch war dies nicht zu ändern. Er nickte nur und wandte sich wieder der Arbeit zu.

Unser Tischnachbar hatte allerdings keine Chance, mit der Durchsicht seiner Papiere fortzufahren.

Unser Tischnachbar hatte keine Chance

Denn sobald wir uns erholt und gestärkt hatten, fingen wir an, einander all die Fragen zu stellen, die sich auf beiden Seiten angesammelt hatten.

Peter genoss es, seine Geschichte auf Deutsch zu erzählen, seiner verlorenen Muttersprache, die zögerlich zu ihm zurückkam. Am meisten freute ihn, dass ich tatsächlich lachen musste, wenn er Witze machte. Erneut begann er, diesmal ohne Mittelsmann, seine Berliner Jahre für mich zu rekapitulieren. Und obwohl ich die Fakten, Namen und Ereignisse bereits kannte, war es eine andere Geschichte. Anders, weil er sie aus seiner Sicht und mit kleinen Bemerkungen versehen darstellte, und weil ich am Lachen hörte, dass nichts Bitteres zurückgeblieben war.

Bemerkenswert war auch, dass nicht nur ich Fragen hatte, sondern auch ihn meine Ansichten über die Geschichte interessierten. Für ihn war ich die Expertin – eine Rolle, mit der ich mich erst anfreunden musste.

Wie war das mit dem Gestaponachbarn?

Ich fragte also drauflos: Wie war das mit dem Gestaponachbarn? (Er wurde von sowjetischen Soldaten bei Kriegsende erschossen und in den Landwehrkanal geworfen. Peter hatte noch das Bild des Erschossenen vor Augen, der pittoresk über das Geländer hing.)

Wie konnten Lotte und Hans existieren, als Juden mitten in Berlin? (Peter wusste es nicht, er wusste nur, dass sie immer mehr als genug zu Essen hatten.) Wusste er als Kind überhaupt, dass er in Gefahr war? (Ja, Lotte schärfte ihm ein, dass er sich still zu verhalten habe, wenn sie kontrolliert würden, und dass er dann Peter Müller hieße.)

Unser Tischnachbar war nur noch zum Schein in seine Papiere vertieft. In Wahrheit lauschte er neugierig und verwundert unserem Gespräch.

Wir redeten und redeten, tranken Limonade und Kaffee, und immer wieder blickte ich zu Sarah hinüber, die dem auf Deutsch geführten Gespräch nicht folgen konnte. Doch auf meine Nachfragen erwiderte sie vergnügt mit ihrem bißchen Englisch, sie kenne all diese Geschichten und erkenne sie selbst in einer fremden Sprache wieder.

Irgendwann entschuldigte ich mich und suchte die Toilette. Die Villa war wunderschön, in der kalten Jahreszeit ein perfekter Ort zum Verweilen, mit Wintergarten, Parkett, Wandmalereien und einer roten Wandbespannung. Heute jedoch stand hier die Luft. Nachdem ich mein Gesicht mit kaltem Wasser besprengt hatte, beeilte ich mich, ins Freie zu kommen.

Draußen saß unser Tischnachbar wieder ungestört allein am Tisch.

Meine Begleiter standen im Garten und diskutierten lebhaft mit einem Gast, den sie soeben kennengelernt zu haben schienen. Es war faszinierend, wie mühelos Peter in seinem brüchigen Deutsch kommunizierte, mit jedem Hotelportier, Eisverkäufer oder Kellner Gespräche anfing, scherzte und lachte.

Doch wie die beiden in den fünf Minuten meiner Abwesenheit bereits neue Bekanntschaften geschlossen haben konnten, war unbegreiflich. Diese siebzigjährigen Israelis schlugen mich um Längen. Sie marschierten stundenlang bei 35 Grad im Schatten durch Berlin, bewiesen enorme Frustrationstoleranz und legten beim Socializing ein Tempo vor, von dem ich nur träumen konnte.

„He’s a great man!“

Ganz so war es doch nicht. Was ich nämlich nicht kannte, doch bald kennenlernen würde, war das Phänomen, dass Israelis überall auf der Welt andere Israelis treffen. Der ältere Herr, mit dem die beiden so intensiv im Gespräch waren, stellte sich als ehemaliger Vorgesetzter von Peter heraus. Was die drei auf Hebräisch besprachen, entzog sich meiner Kenntnis, doch ab und an streuten sie englische Brocken ein und übersetzten mir den Gesprächsinhalt. Der Ex-Boss war mit seiner Frau als Tourist in Berlin und zufällig in das selbe Café geraten.

Er war erstaunt, dass Peter in Berlin geboren war, er habe ihn immer für einen Sabre, einen eingeborenen Israeli gehalten. Mit stolzer Geste zeigte Peter in Richtung Kudamm: Gleich hier um die Ecke, hieß das. In der Tat: Wo sich in den 1930er Jahren die jüdische Privatklinik befunden hatte, in der seine Mutter ihn zur Welt gebracht hatte, war heute ein Teil des KaDeWe, des luxuriösen Kaufhaus des Westens. Sein Chef machte große Augen. Während mir die beiden noch dolmetschten, schaltete er sich selbst ins Gespräch ein. Auf Peter deutend, rief er enthusiastisch: „He’s a great man! He’s a great man!“

Ich war offenbar mit einer Lokalberühmtheit unterwegs.

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Meeting Mutti

Der Typ, der aus dem Aufzug trat, sah nicht aus wie der typische Pensionär. Eher als hätte er seine Harley vor dem Hotel geparkt. Komplett in Jeans, mit schweren Stiefeln, silbernen Ketten und Totenkopfringen, großem Schnurrbart und ebensolchem Bauch.

Der nächste Eindruck konterkarierte das etwas. Als wir uns in die Hotellobby gesetzt und etwas beschnuppert hatten, zogen er und seine Frau einen Karton aus dem mitgebrachten Plastikbeutel – ein Geschenk. Es war ein schweres silbernes Modell der Jerusalemer Altstadt, das mir vor Schreck fast aus der Hand fiel. Vom besten Hersteller jüdischer Sakralgegenstände, versicherten sie. Das Ding wog zwei Kilo und alles was ich dachte war, wie den Klotz nach Hause schleppen, und: Oha, sind die etwa orthodox?

Orthodox

Offen gesagt hatte ich keine Vorstellung, wie orthodoxe Israelis auszusehen hatten. Vielleicht fuhren sie Harley und hatten auf dem Kaminsims Kitschmodelle der Klagemauer. Überhaupt wusste ich wenig über Juden und ebenso wenig über Israelis. Doch Israelis waren die beiden ohne Zweifel. Am Telefon hatte ich zu kämpfen gehabt, sein ulkiges Deutsch zu verstehen und mich verständlich zu machen. Wie deutsch mochte er nach all den Jahren noch sein, hatte ich mich gefragt, und hier sass die Antwort. Trotzdem wollte er immer wissen, ob er „berlinerte“. Offenbar bedeutete ihm das etwas, und nett wie ich war, bejahte ich mit einem Lächeln.

Im Großen und Ganzen war die Begegnung mit meinem Forschungsgegenstand viel einfacher als gedacht. Ich hatte mit Verständnisproblemen gerechnet, vielleicht mit Unbehagen und Unsicherheit, aber nichts von dem traf ein. Die beiden waren entwaffnend offen, warmherzig und kommunikativ, und sie wollten mich kennenlernen.

So verständigten wir uns in gebrochenem Deutsch und schlechtem Englisch, wenn nötig mit Händen und Füßen, was Anlass zu viel Gelächter war. Untereinander sprachen sie Hebräisch und er versuchte mir zu übersetzen, was seine Frau sagte, wenn ihr Englisch sie verließ. Wie im Turm zu Babel ging es zu, nur lustiger.
Als erstes wollte ich wissen, wie es mit Familie Salomon weitergegangen war. 1950 waren sie in die USA emigriert, wusste ich aus den Briefen. Hatte Peter sie je wiedergesehen?

Lotte in Philadelphia

So erzählte er mir von seiner ersten Begegnung mit Lotte Salomon nach über dreißig Jahren. Die Geschichte würde ich noch oft hören. Sie gehörte zum Kernbestand seiner Erinnerungen, zum Fundus der Erzählungen, mit deren Hilfe er seine Identität mit seiner verworrenen Kindheitsgeschichte in Einklang brachte.

Eine Dienstreise in die USA führte ihn 1980 nach Philadelphia, wo die Familie Salomon lebte. Hans Salomon war zu diesem Zeitpunkt schon tot und Peter verspürte wenig Lust, seine ehemalige Pflegemutter wiederzusehen. Wieso alte Wunden aufreißen nach so langer Zeit?

Die kleine Reisegruppe war auf dem Campus untergebracht, wo man in der Mensa zu Mittag aß, als plötzlich sein Name ausgerufen wurde: „A phone call for you, Sir!“ Wer konnte wissen, dass er hier war?

Beim ersten Wort war ihm klar, dass die Frau am Ende der Leitung eine der Töchter war, die Hans und Lotte 1938 nach England geschickt hatten. Sie bat ihn auf Englisch um ein Treffen mit Lotte. Er verneinte brüsk und legte auf. Was hatte er mit dieser Frau zu schaffen? Warum schickte Lotte ihre Tochter vor, konnte sie nicht selbst mit ihm reden? Am Abend wiederholte sich der Vorgang: Er wurde ans Telefon gerufen und hörte eine Frauenstimme. Diesmal war es Charlotte selbst, er erkannte sie gleich. Da endlich willigte er ein.

Am nächsten Tag fuhr man zum Haus der Familie Salomon. Peter stieg aus und bat Sarah, zwei Straßen weiter im Auto auf ihn zu warten. Er wollte allein gehen. Vor dem Gartentor blieb er stehen und zögerte. Da öffnete sich am anderen Ende des Wegs die Haustür. Durch die gazebespannte Windfangtür, die im Sommer Insekten fernhalten sollte, konnte er eine schemenhafte Gestalt erkennen. Als er nähertrat, hörte er die Frau auf der anderen Seite sagen: „Is this my Peter?“

Sie ist runtergefallen…

„Ich hab schon gesehen durch die Tür, ich hab etwas zu tun gehabt mit dieser Frau, sie ist keine Fremde gewesen.“ In dem Augenblick als er Charlotte erkannte, sank sie hinter dem Fliegengitter ohnmächtig zu Boden.
„Sie ist runtergefallen“, sagte er auf Deutsch.

Weißt Du, sagte er, das Haus war voller Peter. Überall Fotos. Ein komisches Gefühl, man kommt in ein fremdes Haus und aus jeder Ecke guckt einen das eigene Gesicht an.

Um Haaresbreite

Ab diesem Tag war der Kontakt eng und herzlich. Das ist meine Familie, sagte er, heute noch! Wir haben unsere Kinder hingeschickt zum Englischlernen. Als meine Tochter geheiratet hat hab ich alle nach Israel geholt: Charlotte, meinen Bruder Kurt und die beiden Mädchen, die in England waren. Auch jetzt nachdem Charlotte tot ist, sind wir eine Familie. Wir schicken uns Geburtstagsgrüße und Festtagskarten, Fotos von Kindern und Enkeln, und besuchen uns so oft es geht.

Wann ist Lotte denn gestorben, unterbrach ich. – Ach, nicht lange her!
Um Haaresbreite.

Sie wechselten ins Hebräische, waren sich nicht sicher, wann genau sie gestorben war. Ich lauschte dieser fremden und etwas rauhen Sprache ungefähr so, wie ich mir chinesische Musik anhören würde: Ich verstand kein Wort, doch es klang schön. Ein Laut ragte heraus, er hörte sich fast an wie „Mutti“. Was das auf Deutsch bedeutete, wollte ich wissen. Wieso, fragten sie, das ist Lotte. Ich schaute sie verständnislos an. Mutti, sagte Peter. So haben wir sie genannt.

Auf Hebräisch nannten sie Peters ehemalige Berliner Pflegemutter bei genau demselben altmodischen Kosenamen, den ich für meine eigene Mutter benutzte. Viel später, als ich das erste Mal in Israel war, lernte ich Peters Schwiegertochter kennen, die Charlotte sehr gemocht hatte. Erst wusste sie nicht, von wem ich redete – Lotte? Das war gar nicht ihr Name, „Mutti“?

Sie hieß gar nicht Mutti – ?

Charlotte starb mit über 90 Jahren in den USA. Peter erzählte, wie er sie ein letztes Mal gesehen hatte, kurz vor ihrem Tod, im Krankenhaus, angeschlossen an Maschinen und Schläuche. Und dann brach er in Tränen aus. Der so zäh und unerschütterlich wirkende siebzigjährige Mann begann hemmungslos zu weinen. Ich nahm seine Hand, drückte sie fest und versuchte, schnell das Thema zu wechseln.

Habt Ihr denn nie, fragte ich, nach den Umständen ihres Überlebens in Berlin gefragt?

Sara, die beim Anblick ihres weinenden Ehemanns blass geworden war, wurde lebendig. Natürlich! rief sie, immer wieder! Aber sie wich aus, gab nur Standardantworten. Der Gestaponachbar. Sie haben sich im Keller versteckt. Keine Details, keine vernünftige Erklärung. Man hat geradezu gespürt, dass sie Dinge zurückgehalten hat. Selbst kurz vor ihrem Tod blieb sie eisern, ich habe alles versucht. Mutti, sagte ich, von mir erfährt niemand etwas, ich schwöre. Ich will es nur wissen! Wie habt ihr das gemacht, bitte, sag es mir! Doch sie lächelte nur: „Aber ich hab Euch doch alles erzählt, Sarah. Mehr war da nicht.“

Sie hat die Geschichte mit ins Grab genommen.

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No Happy End

Obwohl die Salomons in den USA ihr ehemaliges Pflegekind als ihren eigenen Sohn ansahen, fand eine Familienzusammenführung nicht statt. Es existiert nur ein einziger weiterer Brief aus den späten 1940ern von Hans Salomon. Er ist undatiert, doch sicher nicht lange nach den ersten verfasst, denn es ist darin noch von „Palestine“ die Rede – am 14. Mai 1948 wurde der Staat Israel gegründet.

Der Inhalt mag erklären, warum zehn Jahre Schweigen folgten. Obwohl beide Seiten Deutsch sprachen, wechselte Hans ins Englische und schlug einen offizielleren Ton an als zuvor seine Frau. Hans Salomon war fest entschlossen, Peter zu sich zu holen:

„My Dear Mr. Schnitzler:

a good friend of mine is coming to Palestine, & he is coming to see you, and he would like to talk to you about Peter Salomon. I hope this year to become a citizen of U.S.A. & I would like the following year to make arrangements to bring Peter to United States and to our home, as our own son. We are yearning very much to see Peter, as we are heartbroken on account of the situation. Can you advise us, as to how to go about this, in the easiest way in bringing him here.

Please write me a letter about Peter & if possible send me a picture & tell me everything I must do. Why is it so difficult to see the boy? Is something wrong? Please tell me.

This gentleman (…) is concerned over this matter and he is trying to gather information for me, so please help me, & tell (him) everything so he could advise me. We have all the papers that belong to Peter, & the HIAS told me I could bring him here the following year. I have recently brought my two daughters and my mother here from England, & all are very anxious to see him. I have a large apartment and sufficient room for everyone, & I would like to give the boy everything he needs & deserves. So please let this man know everything I can & must do.

I thank you for your help in this matter as you are a dear friend to us, & if there is anything you need for yourself & Peter let us know, so in closing may I say God Bless You and write me soon.
James“

Die Antwort, wenn es eine gab, ist nicht erhalten, und Hans‘ Appell blieb vergebens. Vielleicht wollten die Israelis Peter nicht gehen lassen, vielleicht wollte der Junge kein weiteres Mal verpflanzt werden. In jedem Fall hatte die Familie Salomon in den USA keinerlei Rechtsmittel, ihr ehemaliges Pflegekind zu sich zu holen, ganz abgesehen von der Frage, ob man ihn hätte ziehen lassen. Peter blieb im Kibbuz und der Kontakt brach ab.

Keine Wiedergutmachung

Ende der 1950er Jahre setzte der Briefwechsel wieder ein, doch ist die Spannung zwischen Otto Schnitzler in Israel und den Salomons in den USA mit Händen zu greifen. Otto wollte für den volljährig gewordenen Peter eine Entschädigung aus Deutschland beantragen, die seit 1956 den Opfern der Naziherrschaft zustand.

Da er keine Unterlagen oder Dokumente über Peters Kindheit hatte, war er auf Mithilfe der Salomons angewiesen. Also schrieb er nach langer Pause an Hans Salomon und bat ihn um eine vollständige Darstellung der Umstände, unter denen Peter zu ihnen gelangt war und bei ihnen den Krieg überlebt hatte.

Otto schrieb auch an die Stadt Berlin und bat um Hilfe bei der Aufklärung der Herkunft und Lebensumstände des Jungen sowie um die Übersendung einer Geburtsurkunde. Da sein Anschreiben mit der Geburtsurkunde zusammen zurückgeschickt wurde, kann man rekonstruieren, wie wenig Peter und sein Ziehvater im Kibbuz über die Kindheit des nun volljährigen jungen Mannes wussten:

Brief nach Berlin Seite 2

„15 / 8 / 1956
An den Herrn Polizeipräsidenten (Einwohnermeldeamt), Berlin
Sehr geehrte Herren,
Hiermit erlaube ich mir, mich in folgender Angelegenheit an Sie zu wenden:

Seit mehr als 10 Jahren befindet sich in unserer Siedlung ein Junge, der seinerzeit mit den ersten Kindertransporten nach dem Kriege direkt aus Berlin ins Land kam. Als sein Name wurde damals angegeben: Peter SALOMON, irgendwelche weiteren Einzelheiten waren damals nicht bekannt.

Erst Jahre später, als es gelang, Verbindung mit in Amerika weilenden Leuten zu erhalten (die allerdings seitdem längst wieder abgebrochen ist), erfuhren wir einige wenige und keineswegs ganz gewisse Daten. Hiernach wäre der Name des Kindes Peter Ruben LEWKOWITZ und sein Geburtstdatum der 21. Mai 1938 in Berlin. Der Name SALOMON war der seiner Pflegeeltern (James und Charlotte), die sich und das (verwaiste?) Kind während des Krieges in Berlin unter dem Namen MÜLLER (Hans und Lotte) aufhielten und verbargen; der Junge hiess in dieser Zeit Peter Müller. Weiteres, auch ob irgendeine tatsächliche Verwandtschaft bestand, ist uns nicht bekannt; nur noch die letzten Wohnadressen: Thielsch-Ufer und danach Britzer Strasse (Fleischerei).

Im Namen des junge Mannes, der heute 18 Jahre alt ist, und in meinem Namen als des jetzigen Pflegevaters wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn es möglich wäre, mit Ihrer Hilfe durch das Einwohner-Melde-Amt nähere Einzelheiten in betreffs seiner Herkunft zu erfahren; ganz besonders wichtig wäre es, eine Abschrift seiner Geburtsurkunde zu erhalten. Darf ich auf Ihre Hilfe rechnen? Für den Fall, dass die Zahlung von Gebühren nötig ist, werde ich mich bemühen, Sie so bald wie möglich zu befriedigen. Doch bitte ich höflichst, die Angelegenheit, soweit das möglich ist, zu beschleunigen. Mit herzlichem Dank im voraus verbleibe ich hochachtungsvoll, Otto Schnitzler

[Randvermerk des Einwohnermeldeamtes: Dem Standesamt Berlin-Charlottenburg wegen Ausstellung einer Geburtsurkunde übersandt. Abgabenachricht ist erteilt. Stempel: Standesamt Berlin-Charlottenburg, 29. August 1956]“

Obwohl Peter 18 Jahre alt war, nun wählen durfte und vor Antritt seines Militärdienstes stand, war seine Identität ungeklärt. Er hatte keine Ahnung, wer seine Eltern waren, selbst sein Name war unklar – Salomon oder Lewkowitz? Woher kam sein zweiter Vorname Ruben? Nicht einmal das Datum seiner Geburt wusste er sicher – in ihrem ersten Brief an Otto hatte Charlotte nicht den 22., sondern den 21. Mai 1938 genannt. Sein Leben vor der Ankunft in Palästina bestand einzig aus seinen eigenen, schemenhaften Erinnerungen, von denen in den Briefen erstaunlicherweise kaum je die Rede ist, und den ausweichenden Auskünften der Familie Salomon.

Zumindest lieferte die Geburtsurkunde, die die Stadt Berlin auf Ottos Bitte hin 1956 ausstellte, einige Fakten, die bis dato unbekannt waren. Darin wird das Geburtsdatum, wie schon auf der Nazi-Urkunde von 1938, als 22. Mai 1938 angegeben, und neben dem Namen der Mutter auch ihre Anschrift zum Zeitpunkt der Geburt: Ravensberger Str. 5, Berlin-Wilmersdorf. Leider führte das Berliner Adressbuch von 1938 unter dieser Adresse niemanden mit Namen Lewkowitz auf, wie ich gleich feststellte, als Dani mir die zweite Geburtsurkunde schickte. Im August 1957 antwortete Hans Salomon immerhin auf Ottos Anfrage, doch wieder warf sein Brief mehr Fragen auf, als er beantwortete:

James Salomon an Otto Schnitzler, 10. August 1957

„Sehr geehrter Herr Schnitzler,

Ihren werten Brief habe ich erhalten, und leider kann ich Ihnen nur wenig in der Wiedergutmachtung für unseren Peter mitteilen. Ich habe den Jungen als ganz kleines Kind von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin durch die Städtische Behörde in Berlin adoptiert bekommen, was die Jüdische Gemeinde und Zeugen in Berlin und auch hier in America bezeugen können [Einschub: und vorhanden sind]. Es wurden mir zu dieser Zeit keine Papiere übergeben, habe auch keine Pflegegelder erhalten, da es ja unser Kind war.

Unser lieber Peter ist eigentlich verschoben worden, denn er sollte zu meinen Kindern und meiner Mutter nach England kommen, wurde aber ohne unser Wissen nach Israel geschickt. Uns wurde gesagt, dass Peter nach England kommt, haben aber die Sache gedreht und das kleine Kind nach Israel zu fremden Menschen geschickt.
Ich würde Sie höflich bitten, mir die Adresse von unserem lieben Peter zu senden.

Mit besten Grüßen auch an Ihre werte Gattin, Ihr James Salomon.“

Der Brief warf mehr Fragen auf als er beantwortete. Am auffälligsten war das Fehlen jeglicher Erklärung, wie eine jüdische Familie mit zwei kleinen Kindern es fertiggebracht hatte, die Nazijahre mitten in Berlin zu überleben. Auch von der Verfolgung durch die Nazis war nur ganz vage die Rede.

In ihrer ersten Antwort aus Philadelphia hatten Hans und Charlotte noch geschrieben: „Während der letzten Zeit im Hitlerstaat nannten wir uns Müller: Hans und Lotte Müller; und Peter war nun Peter Müller.“ Wie sie an diese falsche Identität gekommen waren, mit welchen Papieren und welchen Helfern, sagten sie nicht. Ihre Tarnidentität als Familie Müller wurde in keinem der über vierzig erhaltenen Briefe je wieder erwähnt.

Welche Verbindung hatten die Salomons zu Peter wirklich? Den Satz „… da es ja unser Kind war“ hatte Otto rot unterstrichen. Auch er glaubte die Erklärungen der Salomons nicht.

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Bündelweise Briefe (II)

Die meisten Briefe stammten von Peters neuem Pflegevater im Kibbuz, einem deutschstämmigen Israeli mit dem schönen Namen Otto Schnitzler. Dem Ton nach war er ein gebildeter und sehr gewissenhafter Mann, ein typischer Jecke, wie die Israelis spöttisch-liebevoll die deutschstämmigen Einwanderer nennen, die in der hemdsärmeligen israelischen Gesellschaft ihre förmliche europäische Steifheit nicht ablegen konnten. Der damals schon vierzigjährige Otto war nach Peters Erzählungen ein etwas verschrobener Junggeselle und liebevoller Pflegevater. Er hatte sich zur Aufgabe gemacht, mehr über die Berliner Kindheit des Jungen herauszufinden, und so bestand ein Großteil der Korrespondenz aus Briefen zwischen ihm und der ehemaligen Berliner Pflegefamilie, die nach dem Krieg in die USA ausgewandert war. Es begann im Juli 1947 mit einem Schreiben, das Otto nach Berlin schickte. Offenbar hatte sich der Junge an eine Adresse in Berlin erinnert:

„Bei uns befindet sich ein Waisenkind“

„Bei uns befindet sich ein Waisenkind, PETER SALOMON, geb. 22. Mai 1938, der April-Mai 1946 von Blankenese auf dem französ[ischen]. Schiff Champollion mit der Jugendalijah nach Palästina kam. Er hätte gerne Auskunft über HANS u. LOTTE MÜLLER, angeblich sein Onkel und seine Tante, die in BERLIN, in der BRITZERSTRASSE neben einer Schule einen Fleischerladen betrieben haben sollen. Die Eltern des Peter Salomon, HANS und LOTTE oder HILDE SALOMON, wurden kurz vor der Eroberung Berlins durch die Nationalsozialisten getötet. Sie sollen früher ebenfalls am THIELSCH-UFER gewohnt und nachher in die BRITZER STRASSE gezogen sein und ebenfalls das Fleischergewerbe [eine Zeile unleserlich]. Peter Salomon will einen Bruder, namens KURT SALOMON [gehabt] haben, der bei seiner Abreise 2 ½ Jahre alt gewesen sein soll und sich ebenfalls bei seiner Tante und seinem Onkel Hans Müller befunden haben soll. Als Pflegevater des Peter … wäre ich Ihnen zu grossem Dank verpflichtet, wenn Sie mir in der Angelegenheit helfen würden. Als besonderes Kennzeichen des Peter Salomon möchte ich noch erwähnen, dass er auf dem rechten Auge schielt.“

Erster Brief von Otto Schnitzler nach Berlin, 1947, S. 1
Erster Brief von Otto Schnitzler nach Berlin, 1947, S. 2

Antwort aus Amerika

Antwort kam zwei Monate später aus Philadelphia, USA, wo sich James (oder Hans) und Charlotte (oder Lotte) Salomon aus Berlin gerade mit ihrem Sohn Kurt niedergelassen hatten. Sie waren außer sich vor Freude, Peter wiederzufinden, hatten jedoch nicht die geringste Ahnung, wie er in Palästina gelandet war:

„Sehr geehrter Herr Schnitzler, Ihr so sehr ersehnter Brief erreichte uns hier in Philadelphia. Wir sind ja so glücklich, zu wissen, dass unser lieber Peter gesund und bei ihnen ist. Wir suchten das Kind in der ganzen Welt und niemand konnte uns Auskunft geben, wohin er kam. Ich möchte ihnen sagen warum er von uns fort kam. Peter Ruben Lewkowitz geb. am 21.5.38 in B[er]l[i]n ist unser Pflegekind, unser Name ist: James und Charlotte Salomon. Während der letzten Zeit im Hitlerstaat nannten wir uns Müller: Hans und Lotte Müller; und Peter war nun Peter Müller. So haben wir nun alle Grausamkeiten und Schreckliches überlebt als Familie.

Als nun der Krieg beendet war, zogen wir vom Thielsch-Ufer in die Britzer Straße in die Fleischerei, da mein Ehemann Fleischer ist. Peterchen wußte noch nichts vom Kriegsende, denn was wir erlebt haben war zu viel für diese kleine Kinderseele. Für ihn gab es nur diese Mörder, diese S.S.-Nazis. Um dem Kinde eine andere Umgebung und ein besseres Leben zu geben, schickten wir unseren Peter mit dem ersten Kindertransport vom 21.10.45 nach England.

Ich habe dort 2 Töchter und meine Schwiegermutter. Diese 3 Menschen wollten sich um das Kind sorgen und [es] zu sich nehmen, aber Peter war nicht aufzufinden. Im August 1946 schrieb ich nach England, es war nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, und bekam die Antwort am 2.8.47, dass Peter Ruben Lewkowitz nicht zu finden ist, sie geben sich alle Mühe. Nun endlich brauche ich nicht mehr zu suchen. Und wir sind [unleserlich] glücklich wie [letzte Seite des Briefes fehlt].“

Ottos Antwort und der darauf folgende Brief aus den USA sind nicht mehr vorhanden. Der nächste Brief ist datiert auf Februar 1948. Nach dem UN-Teilungsplan vom 23. November 1947, der im britischen Mandatsgebiet zwei Staaten schaffen sollte, einen arabischen und einen jüdischen, war Krieg zwischen Juden und Arabern ausgebrochen. Denn anders als die jüdische Führung, die sofort an die Errichtung eines Staates ging, lehnte die arabische Seite den Teilungsplan ab. Gewattätige Auseinandersetzungen, Anschläge und offene Kriegshandlungen waren die Folge. Verständlicherweise machten sich Salomons in Philadelphia Sorgen um Peter. Sein israelischer Pflegevater mühte sich, ihre Bedenken zu zerstreuen:

„Werte Familie Salomon, entschuldigen Sie bitte, wenn ich Ihnen Ihren lieben Brief vom 21. Januar erst jetzt beantworte. Ich hatte in der Zwischenzeit sehr viel zu tun, so dass ich einfach nicht zum Schreiben gekommen bin. Um sogleich [ein bis zwei Zeilen fehlen, vermutlich: zum Wichtigsten] zu kommen: [Peter geht] es sehr gut. Er ist fröhlich und lustig und macht häufig den Anführer seiner Kameraden bei Spielen und Tollereien in unserem Hof. Im Lesen und Schreiben macht er merklichen Fortschritt seit er von einer ehemaligen Lehrerin tagtäglich Nachhilfestunden erhält. In technischen Dingen ist er sehr geschickt, auch im Rechnen, während er für Sprachen weniger Neigung hat.

Was die allgemeine Lage hier anlangt, so glaube ich wohl, dass die Berichte in den Zeitungen (wie üblich) übertrieben sind. Hier in der Siedlung geht das Leben seinen gewohnten Gang und bis jetzt war alles ruhig. Sie brauchen also dieserhalb keine Sorge zu haben. Für die Kinder ist gut gesorgt.

Wie ich Ihnen bereits schrieb, kam Peter mit einem ganzen Kindertransport von Deutschland auf der Champollion. Die Kinder wurden auf verschiedene Siedlungen hier im Lande verteilt. Zu uns kam ausser Peter noch ein zweites Kind, Peter Goldmann aus Leipzig, der sich ebenso wie Ihr Peter gut eingelebt hat.

Peter wird sich freuen Sie hier, wenn die Lage sich gebessert haben wird, zu begrüssen. Vielleicht wird es Ihnen dann möglich sein, ihn zu besuchen. Das wäre alles für heute.
Freundlichen Gruss, Ihr Otto Schnitzler.“

Panzer im Dorf

Als Kommentar zu Ottos beschwichtigenden Worte zeichnete Peter auf der Rückseite des Briefes ein Haus, einen Panzer und einen Bewaffneten, der vom Panzer aus ein Flugzeug beschießt, das das Dorf überfliegt. Selbst die Kugeln der Gewehrsalven sieht man aus dem Lauf des Maschinengewehrs fliegen. Darüber schrieb er auf Hebräisch, der einzigen Sprache, die er schreiben konnte: „Shalom Mama, Shalom Papa, Shalom mein Bruder. Ich will Euch wiedersehen“.

„Shalom aba, shalom ima…“

Vier über die Welt verstreute Menschen fühlten sich offenkundig als Familie, vom Krieg getrennt. Eine Familie, deren älterer Sohn durch ein merkwürdiges Versehen nach Palästina gelangt war und in krakeligen Buchstaben einer neuen Sprache schrieb, wie er sie vermisste. Charlotte und Hans schrieben von sich immer nur als „Mutti“ und „Papa“, ihr Sohn Kurt, 1943 in Berlin geboren, ist „Peters kleines Brüderchen“.

Im August 1948 schrieb Charlotte einen weiteren Brief, in dem sie nochmals ihren großen Wunsch zum Ausdruck brachte, Peter wiederzusehen. Da der kleine Peter die begehrten ausländischen Briefmarken aus dem Aerogramm herausschnitt, einer Form des Luftpostbriefes, bei der der Briefbogen zusammengefaltet zugleich das Couvert bildete, kann man Teile des Textes nur durch geschicktes Raten rekonstruieren:

„Mein sehr lieber Mr. Schnitzler! auch my dear little Peter!
lange Zeit hörten wir nichts von [ein]ander und wir hoffen, dass alles [bestens] ist. Gottsei dank wir sind gesund und warten nur auf Nachricht von unserem lieben Peter.

Lieber Herr Schn[itzler], [wenn] es angebracht und angenehm [ist, möchte ich] meinem Peter etwas schicken [das er am] Nötigsten braucht[.] Wir wissen [dass Sie] für alles sorgen und doch glaube [ich, Peter]chen wird sich freuen, von uns [etwas zu] erhalten. Was macht die Schule? [unleserlich] sehr wichtig ist zu wissen [unleserlich]. Ist er brav? Und lernt er schon etwas besser? Denn ich denke, [er ist] kein dummer Junge und alt genug auch, um aufmerksam zu sein. Wie gern möchte ich den Jungen sehen, fragt er denn auch manchmal nach uns? und seinem Brüderchen Kurt?

Erzählen Sie doch bitte, dass Kurtchen sehr gut Englisch spricht und schon zur Schule geht und von seinem Bruder aus Palestine viel zu erzählen weiß. Wir waren sehr erfreut und glücklich, Palestine anerkannt [zu wissen] und wir hoffen, alles will sein zum besten. Möge Gott segnen alle Menschen, die ihr Leben dafür gaben. Wir haben uns nun so einigermaßen hier eingelebt. Das Klima macht uns nur etwas zu schaffen, aber auch das werden wir überwinden, denn so manchen Sturm haben wir überlebt, so werden wir auch dieses meistern. Wir erhielten heute Post aus Berlin, von Freunden, die uns während der sehr schlimmen Zeit halfen, auch sie freuen sich über die Nachricht von unserem Peter, dass er in Palestine lebt und einen guten Pflegevater hat.

Wenn es Ihnen möglich ist, lieber Herr Schnitzler, so bitte ich um Antwort, und hoffen wir recht baldige. Nun lieber Herr Schnitzler bleiben Sie recht gesund und seien Sie gegrüßt von ihren dankbaren Charlotte Hans und Kurt.

Für meinen Peter ganz besondere Grüße und Küsse und werde ein braver guter Junge, deine lieben Eltern wollen doch stolz auf Dich sein können. Möge Gott uns geben, recht bald alle wieder vereint zu sein. Deine Dich liebende und gute Mutti, Papa und Kurt.“

(3/x)

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