Wo warst Du im Krieg?

Peter kam aus dem Wohnzimmer zurück, mit einem dicken Beutel alter Fotos in der Hand. Du wolltest doch Fotos sehen, sagte er – bitte!

In dieser Familie schien es keine Fotoalben zu geben, stattdessen eine große, ehemals transparente Plastiktüte. Wollte man ein Foto aufheben, kam es in den Beutel, der Beutel in die Schublade – fertig. Scheinbar wahllos waren Fotos aus unterschiedlichsten Jahrzehnten hineingestopft, und Peter kippte alle auf den Küchentisch.

Während er noch sortierte, fing er an zu erzählen. Obwohl ich innerlich die Nase gerümpft hatte, wie man so lieblos mit den Bildern seines Lebens umgehen konnte, wurde mir nun klar, dass die Methode gar nicht schlecht war. Beim Durchschauen des Berges, der das Leben der Familie abbildete, stieß man auf vieles, das einem beim zielgerichteten Suchen nach eine bestimmten Bild, säuberlich ins Album geklebt, niemals einfallen würde. Der Fotobeutel war ein Zufallsgenerator, der zum Erzählen anregte.

So bekam ich zunächst die Hochzeitsfotos von Peter und Sara vorgeführt (so jung!), wie Peters Kinder laufen gelernt hatten (so schnell!), wie er in den 1960er Jahren in Arad südlich vom Toten Meer mit den ersten Pionieren eine neue Stadt aus dem Wüstenboden gestampft hatte (so staubig!). Und auch die letzten Fotos von Charlotte sah ich, die anläßlich ihres Besuchs in Israel entstanden waren. Eine fidele Neunzigjährige schien sie gewesen zu sein, die immer lachte, obwohl sie schon im Rollstuhl saß.

Ganz unten unter dem Fotoberg lagen ein paar schwarze Pappen, herausgetrennte Seiten eines Fotoalbums. Ah! rief Peter, die Fotos von Lotte und Hans!

Auf diesen Albumseiten waren kleine Fotos mit gewelltem Rand eingeklebt, in schwer nachvollziehbarer Ordnung und ohne Beschriftung. Die meisten zeigten eine Familie, andere nur eine Frau mit Kind. Schau, zeigte Peter, das bin ich. Hier, mit meiner Mutti im Grünen, da gab es eine Schildkröte, die fand ich prima.

Peter und die Schildkröte

Und hier mit Lotte und Hans im Garten.

Von wann sind die? fragte ich verdutzt.

Aus dem Krieg natürlich, sagte Peter. Von wann sonst?

Gartengesellschaft im Sommer 1943 (v.l.n.r.: Hans Salomon, unbekannt, Charlotte Salomon, vorne Peter, auf Charlottes Arm der kleine Kurt, geboren Februar 1943)

Es fiel schwer, das zu glauben. Eine Familie am Kaffeetisch in einer Gartenlaube – Hans, Lotte, der etwa fünfjährige Peter, und Baby Kurt auf Lottes Arm. Das Foto musste also ungefähr im Sommer 1943 entstanden sein – Kurt war im Februar 1943 geboren, wie mein Vater. Mein Vater, der so schlechte Zähne hatte, weil seine Mutter ihn mit Zuckerwasser und Mondamin aufpäppelte.

Neben Hans saß noch ein Mann, an den Peter sich nicht erinnerte. Auf dem Tisch standen Kaffee und Kuchen. Auf einem zweiten Foto mit Familienidyll am selben Gartentisch lagerten vor dem Tisch ganz entspannt zwei Schäferhunde.

Kaffee, Kuchen, Schäferhunde – Berlin 1943

Nelson hieß der eine, sagte Peter, mein Vater hat immer Hunde gehabt. Ich auch, immer haben wir Hunde gehabt. Und rief den Hund zu sich, der wie zum Beweis seinen Kopf auf Peters Schoß legte. Weißt Du, wie ich ihn bekommen hab? Meine Enkelin war mit im Tierheim. Opa, hat sie gesagt, sollen wir nicht den nehmen? Der ist so häßlich, den will sonst keiner. Und ich hab gedacht: Der Hund ist ein bißchen wie ich. Wenn mich nicht jemand aus dem Heim mitgenommen hätte, wär’ ich heute nicht hier. Also sag ich zu ihr: Den nehmen wir! Und seitdem ist er bei uns.

Im Juli 1943 hatte Goebbels siegessicher verkündet, Berlin sei nun “judenrein”. Doch, musste man angesichts dieser Fotos sagen, er irrte: Im Berliner Sommer 1943 saß eine jüdische Familie mit ihren zwei kleinen Kindern und zwei Schäferhunden im Garten, genoß Kaffee und Kuchen und dachte nicht daran, sich vergasen zu lassen.

Verstehst Du jetzt, warum ich die Fotos niemand zeigen kann?
sagte Peter. Was werden die Leute sagen: Wo warst Du im Krieg?
In Miami? (22/x)

Das salomonische Rätsel

Die Unbegreiflichkeit des anscheinend so normalen Lebens der Familie Salomon im Nazi-Berlin wurde zum gordischen Knoten der Recherche. Da waren zunächst die ganz konkreten Umstände, unter denen Juden im Nationalsozialismus lebten, und die Historiker:innen grob in drei Phasen einteilten:

Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler 1933 richteten sich die Maßnahmen zuerst auf die wirtschaftliche Ausgrenzung. SA-Schlägertrupps griffen jüdische Geschäfte und ihre Inhaber an, jüdische Beamte wurden entlassen und jüdische Ärzte verloren die Kassenzulassung. Mit den Nürnberger Gesetzen definierte der NS-Staat 1935 gesetzlich, wer als “Jude” im Sinne der rassistischen Ideologie galt. Eheschließungen und Beziehungen zu “Ariern” wurden unter Strafe gestellt.

Boykott jüdischer Geschäfte 1933, Quelle: Wikipedia

1936 verschaffte die Olympiade in Berlin den Drangsalierten eine kurze, trügerische Atempause. Ab 1938 jedoch ging die Verfolgung mit wachsender Schärfe weiter. Im Laufe des Jahres verloren Juden unter anderem ihr politisches Stimmrecht, mussten ihr Vermögen offenlegen, ihre Geschäfte an „Arier“ verkaufen, ihre Reisepässe abgeben. Jüdische Ärzte und Anwälte wurden zu “Krankenbehandlern” und “Konsulenten” degradiert, die nur noch mit Juden umgehen durften.

Im Oktober 1938 wurden in Deutschland lebende Juden polnischer Nationalität brutal abgeschoben und schließlich am berüchtigten 9. November 1938 im ganzen Land Pogrome gegen Juden, ihre Gotteshäuser und Geschäfte inszeniert. Danach durften Jüdinnen und Juden keine Theater, Kinos, Bibliotheken, Konzerte, Ausstellungen und anderen Kulturveranstaltungen, keine Badeanstalten und Parks sowie jüdische Kinder keine „deutschen“ Schulen mehr besuchen. Ab 1939 mussten sie den zusätzlichen Vornamen „Sara“ bzw. „Israel“ annehmen und die sogenannte Kennkarte, gestempelt mit einem großen “J” mit sich führen.

Kennkarte „J“, Quelle: Wikipedia

Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verschärfte das Regime abermals den Druck. Immer bizarrer wurden die Maßnahmen und Verbote, die schließlich in völliger Rechtlosigkeit und der bekannten “Endlösung” mündeten.

Juden mussten ihre Radios abgeben, durften nur zu bestimmten Zeiten einkaufen, in Berlin zwischen 16 und 17 Uhr, ihre Telefonanschlüsse wurden gekappt. 1941 wurden sie zur Zwangsarbeit verpflichtet und ab September musste jeder Jude im Sinne der Nürnberger Gesetze ab dem vollendeten sechsten Lebensjahr den sogenannten “Judenstern” tragen.

Ab Januar 1941 schwenkte die NS-Politik schrittweise ein auf das, was schließlich mit dem Begriff “Endlösung der Judenfrage” bezeichnet werden sollte. Das Ziel war nicht mehr die Auswanderung, sondern die physische Eliminierung, die zunächst noch als “Abschiebung” getarnt wurde, aber intern bald als physische Vernichtung offen benannt wurde. Konsequenterweise erließ man im Oktober 1941 ein “Auswanderungsverbot für die Dauer des Krieges” – die Falle war zugeschnappt.

Im Januar 1942 wurden Deportation und industrieller Massenmord auf der berüchtigten Wannsee-Konferenz organisatorisch eingeleitet. Die antijüdische Gesetzgebung im Reich nahm unterdessen unverhohlen sadistische Züge an. Nach Einführung der Lebensmittelkarten bekamen Juden geringere Rationen, ab September 1942 überdies kein Fleisch, keine Milchprodukte, Eier und andere höherwertigen Lebensmittel mehr. Bezugsscheine für Kleidung, die ebenfalls rationiert war, erhielten sie überhaupt nicht. „Sternträger“ durften keine Telefonzellen benutzen (Oktober 1941), keine Haustiere halten (Februar 1942), keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Nur wer mehr als sieben Kilometer zur Arbeit fahren musste, konnte eine Ausnahmegenehmigung beantragen. Juden mussten außerdem ihre Wohnung „mit einem weißen Judenstern aus Papier“ kennzeichnen (März 1942).

Parallel dazu lief die Deportations- und Vernichtungsmaschinerie an. Ende 1941 waren bereits 20.000 deutsche Juden ins Ghetto Lodz geschafft worden, eine zweite Welle folgte im Januar. Nach der Wannseekonferenz rollten Ende März 1942 die ersten Transporte aus Westeuropa und dem Reichsgebiet nach Auschwitz, im Juni begannen die Massenvergasungen in Auschwitz-Birkenau.

Die letzten Juden in Berlin

Vor allem in Berlin gab es noch einige, die es geschafft hatten, der Deportation zu entgehen – weil sie in kriegswichtigen Betrieben Zwangsarbeit leisteten, bei der jüdischen Gemeinde beschäftigt oder mit “Ariern” verheiratet waren.

Doch in zwei großen Deportationswellen wurden schließlich auch sie erfasst: Der sogenannten “Gemeindeaktion” am 20. Oktober 1942, in der die nunmehr “Reichsvereinigung der Juden” genannte Zwangsunion der jüdischen Rest-Gemeinden selbst eine Liste aller “entbehrlichen” Mitarbeiter zwecks Deportation zusammenstellen musste, und in der sogenannten “Fabrikaktion” am 27. Februar 1943, bei der die Menschen direkt an ihren Arbeitsplätzen verhaftet wurden.

Diese “Fabrikaktion” hat vor allem wegen des Frauenprotests in der Rosenstraße Berühmtheit erlangt. Denn es handelte sich vielfach um Juden, die mit einem nichtjüdischen Partner verheiratet und somit bis zu einem gewissen Grade vor der Deportation geschützt waren. Ihre christlichen Ehefrauen postierten sich so lange vor dem Gebäude, in dem ihre Männer gefangen gehalten wurden, bis die Gestapo nachgab. Zeitgleich mit der “Fabrikaktion” wurden auch die letzten jüdischen Heim- und Pflegekinder aus Berlin deportiert.

Gedenksäule Protest in der Rosenstraße
Gedenksäule Protest in der Rosenstraße, Wikipedia

Zuletzt wurde im April 1943 allen Juden die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Im Juni erklärte Goebbels stolz die Hauptstadt für „judenrein”. Mit Wirkung zum 1. Juli 1943 wurden Juden vollends vogelfrei: Sie verloren den Rechtsschutz durch die Justiz und unterstanden nur noch der Polizei.

Wovon lebten Hans und Charlotte in dieser immer brutaler werdenden Zeit? Was aßen sie, woher bekamen sie Kleidung, Medikamente, Lebensmittel? Trugen sie den Stern, mussten sie Zwangsarbeit leisten? So wie ab spätestens März 1941 alle Jüdinnen und Juden, die noch im Dritten Reich übrig waren? Wenn ja, wo blieben dann Peter und der kleine Kurt? In einem Kindergarten, bei Verwandten? Wohin flüchteten sie bei den Bombenangriffen auf Berlin, da Juden die Benutzung von Luftschutzbunkern untersagt war? Wie schafften sie es, den Deportationen immer wieder zu entgehen? Lebte die Familie möglicherweise doch unter falscher Identität, obwohl das angesichts der Fakten so unwahrscheinlich schien?

Eine jüdische Familie überlebte den Zweiten Weltkrieg mitten in Berlin, mit zwei kleinen Kindern und, Peters Erinnerungen zufolge, immer genug zu Essen. Der Ehemann arbeitete bei der jüdischen Gemeinde und gab nach dem Krieg nur einsilbig Auskunft über die Jahre zwischen 1938 und 1945. Die Salomons hatten offenkundig Peters Leben gerettet – aber wir hatten keine Ahnung, wie sie dies bewerkstelligt hatten. (21/x)

Verwertungslogik

Nachdem Sara und Richard am 14.4.1942 deportiert worden waren, schritt die Auswertung ihres Eigentums in raschem Tempo voran. Dies schlug sich deswegen so minutiös in den Akten wieder, weil die Behörde, der die finanzielle Vereinnahmung des beschlagnahmten Vermögens oblag, sämtliche anfallenden Kosten aus diesem, den soeben deportierten Juden geraubten, Vermögen bestritt und darüber genauestens Buch führte. So musste die Wohnung zuerst beräumt werden, bevor sie wieder vermietet werden konnte, wofür Frau “Margarete Wende, Hauswart” umgehend 10,- Mark für “Reinigung der Judenwohnung” bekam. Die Oberfinanzbehörde schrieb Postschecks und Überweisungen, während sie parallel die Konten Richard und Sara Kellermanns auflöste und deren Hausrat versteigern ließ.

Die Historikerin Susanne Willems hat präzise rekonstruiert, welche Bedeutung nicht nur die Beschlagnahme und Veräußerung jüdischen Eigentums, sondern auch die Requirierung der von Juden bewohnten Wohnungen für das NS-System hatte („Der entsiedelte Jude“, Berlin 2008). Seit 1938 war der Architekt Albert Speer “Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt” Berlin, eine Funktion mit ungewöhnlich weitgehenden Befugnissen, die nicht der üblichen Planungshoheit der städtischen Behörden unterworfen war. Speers Aufgabe war es, Berlin zur monumentalen “Welthauptstadt Germania” umzubauen. Dafür brauchte er freie Hand und freie Flächen.

Um für den brachialen Umbau Platz zu schaffen, plante seine gleichnamige Behörde, innerhalb der NS-Funktionshierarchie so mächtig wie ein Ministerium, großflächig Altbauten abzureißen, obwohl in Berlin Wohnungsnot herrschte. Abhilfe versprach man sich durch die “Entmietung” von Wohnungen, in denen Juden lebten. Systematisch wurden von Speer gutbürgerliche Berliner Wohnlagen nach jüdischen Mietern durchkämmt und diese, in drei Wellen, aus ihren Wohungen “entfernt”. Die “entmieteten” und entrechteten Juden mussten zunächst bei anderen Juden Quartier finden, ab August 1941 wurden sie gleich nach der Exmittierung aus ihrer Wohnung deportiert.

Die Bedeutung Speers im Prozess der Deportation der Berliner Juden liegt darin, dass tatsächlich er und seine Behörde den Takt und den Marschbefehl für die anrollenden Deportationen angaben. Die Gestapo, so könnte man sagen, deportierte auf Speers Bestellung. Der freiwerdende Wohnraum, oft in gefragten Gegenden, diente nicht nur der Umquartierung von Mietern, deren Häuser Speers Bebauungsplänen zum Opfer fallen sollten, sondern wurde auch zur wertvollen Verfügungsmasse, mit der man Personen innerhalb der eigenen Netzwerke belohnen und Vergünstigungen verschaffen konnte.

Bald standen verdiente Parteigenossen und Wirtschaftsfunktionäre Schlange für die begehrten großbürgerlichen Wohnungen und Häuser. Auch Richard und Sara Kellermann, die auf dem noblen Kudamm immerhin eine Wohnung mit Bad, WC, Warmwasser-Heizung, Parkett und Balkon bewohnten, fielen in dieses Raster. In ihre Wohnung zog eine alleinstehende Frau ein, ein “Fräulein Sahl”, wie es in den Akten heißt, die vorher nahe dem Tiergarten im Kernplanungsgebiet von Speers Groß-Berlin gewohnt hatte, wie man dem Berliner Adreßbuch entnehmen kann. Vielleicht war sie aber auch, im Adreßbuch als Sekretärin aufgeführt, bei einer der zentralen NS-Behörden beschäftigt, deren Büros rund um ihre bisherige Wohnung am Tiergarten lagen, und hatte so eine günstige Ausgangsposition, um eine Wohnung in bester Lage zu ergattern.

Fräulein Sahls neue Wohnung

Während das Dritte Reich sich im großen Stil am Eigentum und Vermögen der emigrierten und deportierten Juden bereicherte, profitierten ihre ehemaligen Nachbarn und andere “arische” Deutsche im Kleinen. So wie der Hausbesitzer, der die Gelegenheit beim Schopfe packte, seine Wohnung auf Kosten der deportierten Mieter sanieren zu lassen, und sich den Mietausfall erstatten ließ:

“Dr. Heinz W. Mattern / Hausverwaltungen. Berlin, den 13.7.42.
An den Oberfinanzpräsidenten, Vermögensverwertungs-Aussenstelle, z.Hd. Frau Mahnke, Berlin NW. 40, Alt Moabit 143. Betr.: Wohnung Kellermann, Kurfürstendamm.

Anbei überreiche ich Ihnen einen Kostenanschlag des Malermeister Wilhelm Plätke, Berlin-Charlottenburg, für die Wohnung des evakuierten Mieters Kellermann in Höhe von RM.550,- mit der Bitte zu der Renovation RM.300,- zuzuzahlen, da von Seiten des ehemaligen Mieters eine übernormale Abnutzung vorliegt, und das Beziehen einer solchen Wohnung der neuen Mieterin […] nicht zuzumuten ist. Gleichzeitig übersende ich Ihnen eine Rechnung des Klempners Möde, Berlin W.15, mit der Bitte um Begleichung, da bei dem ehemaligen Mieter die in Rechnung gestellten Schlüssel nicht vorzufinden waren. […] Gleichzeitig erinnere ich nochmals an die Zahlung der Mieten von April bis einschliesslich Juni 1942 mit je RM.98,- also insgesamt RM. 294,- Die Mieten ab 1. Juli 1942 werden von der neuen Mieterin gezahlt. Heil Hitler!”

“Der Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg. Berlin, W 15, 28. September 1942.
Betr.: Judenwohnung Kellermann, Berlin, Kurfürstendamm.

Über den Zustand der Wohnung vor der Instandsetzung kann nicht geurteilt werden, da die Schönheitsreparaturen längt durchgeführt und die Wohung seit 1. Juli d. J. wieder vermietet und bewohnt ist. Die in dem Kostenvoranschlag aufgeführten Arbeiten sind gemacht. Die Preise entsprechen den vom GBI [Generalbauinspektor Speer] mit der Malerinnung bei Instandsetzung von Judenwohnungen vereinbarten Sätzen. […] Der Hausbesitzer bringt vor, dass die Wohnung so verwohnt gewesen sei durch die Unterbringung weiterer Insassen, dass ihm die hohen Kosten der Gesamtreparatur nicht zugemutet werden könnten. Er gibt als Zeugen für den schlechten Zustand der Wohnung der vom Oberkommando der Wehrmacht mit der Wohnungsvermittlung beauftragten Agenten Lüdecke und die beiden Vertreter der Kommandostelle an, welche die Wohnung seinerzeit besichtigt haben.

Der in der Akte liegende Kostenvoranschlag beinhaltet eine Komplettrenovierung, inklusive Tapezieren, Streichen, Parkett abschleifen und Neulackierung von Fenstern, Türen, Heizkörpern und Jalousien für eine Gesamtsumme von 550,- RM, fünfeinhalb Monatsmieten der Wohnung. Den Mietern eine “übernormale Abnutzung” der Wohnung zu unterstellen, war ein Leichtes, da niemand mehr da war, der dies hätte bestreiten können. Die ausplündernde Oberfinanzbehörde hatte die Maßgabe, vom beschlagnahmten jüdischen Vermögen möglichst viel für die Reichskasse zu vereinnahmen. Doch man wusste auch, dass alle Beteiligten sich ihren Teil vom Kuchen sicherten. Das hinter der Argumentation stehende antisemitische Klischee der “dreckigen” und überfüllten “Judenwohnung” glaubte man bei der Oberfinanzbehörde unbesehen, und so wurde nur noch die Höhe der zu übernehmenden Kosten verhandelt:

Das Vorbringen erscheint glaubhaft. Ausserdem werden die genannten Zeugen dem Hausbesitzer ganz sicher seine Angaben bestätigen, sodass im Streitfall die Angaben geglaubt werden müssen.

Der Vertreterin des [Hausbesitzers] habe ich entgegengehalten, dass der grössere Teil der Erneuerungsarbeiten eigentliche Schönheitsreparaturen und nur der geringere Teil Erneuerungen sind, die ausnahmsweise gemacht wurden. Sie hat sich damit einverstanden erklärt, dass sie sich mit einem Pauschbetrag von zusammen 200 RM als für sämtliche Ersatzbeträge befriedigt erklärt. Hinzu kommt allerdings die Miete für den Monat Juni 1942, weil die neue Mieterin erst ab 1. Juli 1942 gemietet hat. Der gesamte Ersatzbetrag beträgt somit 290 RM.”

Vor Renovierung und Einzug des “Fräuleins” wurde das Inventar der Wohnung von Richard und Sara durch einen Schätzer taxiert. Von dieser Inventarliste existieren in der Akte zwei Versionen, eine handschriftliche, die offenbar direkt vor Ort erstellt wurde, und eine getippte Version, die als Grundlage von Verkauf und Versteigerung diente. Wer sich die Mühe macht, die schnell hingekritzelte erste Inventarliste zu entziffern und mit der später auf Schreibmaschine verfertigten zweiten zu vergleichen, stellte Abweichungen fest. So listete das handschriftliche Schätzungsprotokoll vom 4. Juni 1942 gleich zu Beginn eine Reihe offenbar hochwertiger Eichenmöbel auf:

“1 Büffet – Eiche 3 Mtr. br. flache Form; 1 Anrichte – Eiche, 1,50br.; 1 runder Tisch – Eiche; 8 Polsterstühle und 2 Polstersessel; gesamt: 1400,- [Randvermerk:] Schnitzerei”
“1 Bücherschrank – Eiche 220 br 2 hoch; 1 Schreibtisch m Sessel; 1 runder Tisch und 1 Rauchtisch; 2 Lederstühle, 1 Leder-Sessel, 1 Ohrensessel; gesamt: 1200,-”

Auch wenn es sich um eine großzügige 1-Zimmer-Wohnung gehandelt haben muss, so musste diese Menge an Mobiliar darin reichlich gedrängt gewesen sein. Die Vermutung lag nahe, dass Sara sich nach dem Tod ihres ersten Mannes in keiner rosigen Lage befand. Nur die Eichenmöbel zeugten noch von besseren Tagen.

Im Schreibmaschinenprotokoll “Inventar und Bewertung” vom 10. Juni 1942 waren diese Möbelgruppen mit “Schnitzereien”, die am 4. Juni noch auf je 1400,- und 1200,- Mark geschätzt wurden, verblüffenderweise verschwunden. Es begann stattdessen mit:

“1 Couch / Ruhebett Stoff 150,-; 1 Messingbett m. Aufl. 30,-; 1 Gaderobenschrank weiß, 60,-; 1 Grammophonschrank m. 8 Platten; 1 Staubsauger ‘Protos’, 30,-; 1 kl. Weinschrank, 10,-; 1 Tischuhr und 9 einfache Bilder, 40,-; 3 alte Koffer, 10,-; 1 Klavier schwarz, 1 Klaviersessel, 300,-; 5 Paar Herrenschuhe, 3 Paar Damenschuhe 135,-; 5 Anzüge m. Frack u. Smoking, 100,-; 7 Damenkleider, 4 Mäntel, Hüte und 3 Blusen 50,-; 1 Singer Rundschiffnähmaschine 60,-”

Und so weiter, seitenlang. Schätzwert des gesamten Inventars: RM 1.145,90. Die Eichenmöbel, zuvor allein mit 2.600,- RM veranschlagt, fehlten. Augenscheinlich hatte jemand mit Beziehungen diese Filetstücke reserviert. Mit Datum vom 11. Juli 1942 fand sich eine Kaufquittung über diese und weitere Möbel, ausgestellt auf Herrn “Dipl.-Ing. Theodor Janssen, Berlin-Dahlem, Königin Luise Str. 20” – nicht im Adressbuch, weder 1942 noch 1943, auch nicht im Teil nach Straßen, enthalten – über die stattliche Summe von 2.897,- RM. Fälschlicherweise wurde diese Summe später als Bankguthaben Sara Kellermanns verbucht. Ob die Sachbearbeiter den Überblick über die eingenommenen Gelder verloren hatten oder der Vorzugskauf des Herrn Janssen verschleiert werden sollte, war nicht rekonstruierbar. Offenkundig wollte man die Spuren dieser Transaktion verwischen, und so hatte wohl Sara nicht selbst auf der von ihr mit zittriger Hand vor der Deportation ausgefüllten Vermögenserklärung exakt diese Möbel mit kräftigem Strich wieder durchgekreuzt.

Auch anderes Mobiliar sicherten sich Interessierte gleich nach der Beschlagnahme, so der “Regierungsrat Dr. Venter”, der niemand anderes als Kurt Venter, der stellvertretende Leiter der Berliner Gestapo war (Susanne Willems, Der enteignete Jude, S. 421).

Der Rest des nunmehr seiner wertvollsten Stücke entledigten Mobiliars ging am 14. Juli 1942 in die Versteigerung. Solche Versteigerungen wurden regelmäßig inseriert, in diesem Fall im “Völkischen Beobacher” und im “Berliner Lokalanzeiger”. Hier konnte jeder Bürger aus dem Eigentum der Entrechteten ein Schnäppchen machen. Perfiderweise fand die Versteigerung der gestohlenen Güter auf dem Gelände eben der ausgebrannten Synagoge statt, in deren Hausmeisterwohnung der kleine Peter mit seinen Pflegeeltern wohnte. Ob sie wussten, dass hier das Eigentum der deportierten Juden unter den Hammer kam? (20/x)

Biblische Verwirrung

Endlich hatte ich nachgegeben und war der Einladung von Peter und Sarah gefolgt. Er wolle mir sein Land zeigen, hatte er beim Abschied in Berlin gesagt. Die Idee gefiel mir, und so beschloss ich, ganz ohne mitgebrachte Vorstellungen zu kommen. Meine Landeskenntnis beschränkte sich auf ein wenig Allgemeinwissen über den Nahostkonflikt sowie, das war mir vorher kaum bewusst, ein paar Bibelgeschichten aus der Schule.

Zusammen mit Peters Erklärungen ergab dies eine wilde Mischung, die immer wieder Verwirrung stiftete und zu denkwürdigen Szenen führte. Als wir auf dem Weg zu einem Kibbuz im Norden lauter Orte passierten, deren Namen mir aus besagten Bibelstunden bekannt waren, wurde mir beispielsweise klar, dass es sich bei dem Gewässer, das Peter als Kinneret bezeichnete, um nichts anderes als den biblischen See Genezareth handelte. Vielleicht hätte ich doch einen Reiseführer mitnehmen sollen. Denn die israelische Wirklichkeit, die draußen vor dem Autofenster vorbeizog, mochte partout nicht zu meinem kindlich-naiven, verschütteten Bibelwissen passen.

Als wir an einer Kreuzung vorbeikamen, an der es nach Nazareth abging, fragte ich Peter, ob wir nicht einen Abstecher machen könnten. Klar, sagte er, wenn Du Lust hast! So fuhren wir nach Nazareth, das sich als quirliges, arabisch geprägtes Städtchen herausstellte, in dem der Verkehr die Straßen verstopfte. Wir folgten dem Strom der hupenden Autos und landeten an einer großen Kathedrale jüngeren Datums. Das imposante Bauwerk war errichtet worden über der Grotte, in der Maria laut Überlieferung der Erzengel Gabriel erschienen war, um ihr zu verkünden, dass sie den Heiland in ihrem Leib trüge.

Verkündigungskirche Nazareth
Verkündigungskirche Nazareth

Hier begegnete ich auch das erste Mal den christlichen Pilgertouristen, die Israel auf der Suche nach den heiligen Stätten der Bibel bereisten. Für sie war diese Reise der Höhepunkt ihres Lebens. Vor der Grotte, die sich tief unter der Kirche befand, fragte uns ein russisches Pärchen, wo die Kirche des heiligen Josef sei. Wir wussten es nicht. Offenbar hatte Nazareth viele biblische Sehenswürdigkeiten, von denen ich keine einzige kannte.

Draußen setzten wir uns in den grünen Innenhof und ließen den Strom der Pilger an uns vorbeiziehen. Die Diskrepanz zwischen kindlichem Bibelwissen und israelischer Realität machte mich ganz schwindlig. Wo, fragte ich Peter, ist denn nun hier Jesus geboren? Er guckte mich ratlos an, dann lachte er. Was fragst Du mich!, rief er mit theatralischer Geste, ich bin Jude! Tatsächlich hatte ich das einen Moment lang vergessen. Keine Bibelstunden mit Jesusgeschichten.

Während ich weiter grübelte, trat ein älterer Herr zu uns, der etwas abseits gestanden und seine Kamera gereinigt hatte. Entschuldigung, sagte er auf Deutsch und so leise, als würde er mir ein Geheimnis anvertrauen, das war doch in Bethlehem. Das liegt in den Palästinensergebieten, bei Jerusalem.

Peter grinste über mein schamrotes Gesicht. Zum Trost lud er mich in die israelische Gegenwart ein. Auf der Terrasse eines Cafés am belebtesten Platz des Städtchens beobachten wir den Trubel und aßen Hummus, tranken Limonade und arabischen Kardamom-Kaffee. Der Chef des Hauses trat aus dem Lokal, hörte uns Deutsch reden, und schon waren wir in ein Gespräch verwickelt. In perfektem Deutsch erzählte von seinen Jahren in Deutschland, wo noch immer seine halbe Familie lebte. Warum war er nach Deutschland gegangen? Wissen Sie, sagte er, es ist nicht einfach für uns Araber im Staate Israel. – Und warum dann wieder zurück? – Meine Familie lebt hier schon seit Generationen, ich konnte diesen Flecken Erde einfach nicht vergessen. (19/x)


[Diese Geschichte habe ich im Vorwort zum Buch „Als Künstler und Kartograph im Heiligen Land“ schon einmal erzählt.]

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Plünderung nach Akten

Sara Kellermann war fast 59 Jahre alt, ihr Ehemann Richard beinahe 67, als jeder von beiden im April 1942 bei der Gestapo ein 16-seitiges Inventar mit dem nüchternen Titel „Vermögenserklärung“ ausfüllen musste. Zwei Menschen im Großelternalter. Tatsächlich war zu diesem Zeitpunkt Saras Enkel Peter fast vier Jahre alt. Wann hatte sie den Jungen zum letzten Mal gesehen? Wusste sie, dass er bei Pflegeeltern war? Hatte sie noch andere Enkel?

Auf die Zeile “geb. am” schrieb sie mit wackliger Schrift: 25.6.1983 (!), und bei ihrem Ehemann: 3.5.1975 (!). “Beruf: Ehefrau” – “Außerhalb des gemeinsamen Haushaltes lebende Kinder: Sohn Max, Barcelona; Tochter Ursula, London”. Nicht nur Ursula, auch ihr Bruder Max hatte dem Deutschen Reich entkommen können. Was war aus ihm geworden?

Der Fragebogen zur finanziellen Verwertung der deutschen Juden sah für jede Eventualität eine Spalte vor. Vorräte an “Kohle, Koks, Holz, Kartoffeln”, sowie “Badelaken, Plüschdecken, Hausjacken, Garnituren Unterwäsche, Schirme, Handtaschen” waren nach Zahl und Schätzwert einzutragen.

“Wohnungsinventar und Kleidungsstücke (Anzahl und Wertangaben) – Schlafzimmer: 1 Bettvorleger, 4 Federbetten, 3 Kopfkissen, 1 Daunenbetten, 1 Steppdecken, 1 Plumeaux, 3 Matratzen, 1 Deckenlampe”.

Mehrfach korrigierte Sara sich, strich den großen Teppich (5×2 1/2m) vom Schlafzimmer ins Speisezimmer, die Couch vom “Wohn-, Herrenzimmer” ins Schlafzimmer. In der Rubrik “Wohn-, Herrenzimmer” und “Speisezimmer” war die linke Spalte mit grobem Stift zuletzt wieder durchgestrichen: “1 Schreibtisch und 1 Sessel, 1 Bücherschrank, 1 Tisch groß, 1 Tisch klein, 4 Stühle, 1 Sessel; 1 Eßtisch, 12 Stühle, 1 Buffet, 1 Anrichten, 1 Krone, Lampe”. Es war vermutlich nicht einfach, sich seine Wohnungseinrichtung zu vergegenwärtigen, wenn man bei der Gestapo saß. Es war vermutlich auch nicht einfach, Mobiliar nach Schlaf-, Wohn-, Speise- und Herrenzimmer aufzulisten, wenn man eine 1-Zimmer-Wohnung “mit Schlafnische” bewohnte.

Wohnungsinventar Enteignungsakte Kellermann

Während ihr Ehemann Richard bei allen Fragen nach Geld, Gold und Wertpapieren stets “keins” – “keine” – “nicht vorhanden” schrieb, waren weite Teile des endlosen Fragebogens der Sara Kellermann, mit Ausnahme der persönlichen Daten und des Wohnungsinventars, gar nicht ausgefüllt. Auf den ersten Seiten noch schnelle Striche über leere Zeilen, später schien sich der offenbar assistierende Beamte diese Mühe nicht mehr gemacht zu haben:

“Guthaben bei Geldinstituten: [Strich]” – “Wertpapiere: [Strich]” – “Besitzen Sie ein Panzerschließfach und was befindet sich darin? (Anstalt, Nummer und evtl. Losungswort sind anzugeben): [Leer]” – “Besitzen Sie Gemälde, Antiquitäten, Gold- oder Silberwaren, Schmuck, Juwelen oder sonstige Kunstgegenstände und Sammlungen? (Briefmarken-, Münzensammlungen usw.) Stückzahl und ungefährer Wert sind anzugeben. Wo sind diese verwahrt? Der Depotschein ist beizufügen: [Leer]” “Sind Ihnen gehörige Sachen bei anderen in Verwahrung? Name, Anschrift des Verwahrers sowie genaue Beschreibung und ungefährer Wert der Sachen sind anzuführen: [Leer]”

Die Gestapo hatte keine Geduld mit Sara, die offenbar nicht mehr allzu viel besaß, das man zu Geld machen konnte. Doch auf eines wurde peinlich geachtet: dass sie die Rubrik “II. Haus- und Grundbesitz” ausfüllte, mit allen erforderlichen Zahlen und Daten. Zwei Häuser besaß sie in Berlin, jeweils mit der Hälfte des “Einheitswertes” beliehen.

Unterschrieben: Berlin, den 12.4.1942, Sara Kellermann. (18/x)

Invisible Eric

Das Internet hielt auch über Ursula englischen Ehemann Eric W. Wainwright etwas bereit. Nach vielen Facebook-Profilen seiner heutigen Namensvettern stieß ich zuletzt auf die Erinnerungen eines altgedienten Feuilletonisten der englischen Zeitung „The Daily Mirror“. Sie handelten von „Invisible Eric“, einer Legende der Fleet Street, der ehemaligen Londoner Zeitungsmeile („I knew Eric Wainwright“, von Colin Dunne).

Obwohl er über Jahrzehnte auf den Gehaltslisten des „Mirror“ geführt wurde, hatte kaum jemand aus der Redaktion dieses Faktotum je zu Gesicht bekommen. Der Autor dieser Zeilen hatte vorübergehend keine Bleibe und verbrachte seine Sonntage in der Redaktion, wo er eines Tages Eric begegnete, der einmal im Monat in die Redaktion kam, um eine Spesenabrechnung in erklecklicher Höhe einzureichen:

„Mit seinem pomadisierten Silberhaar, rotem Gesicht und Salonakzent war er ein Typ, der selbst damals schon weitgehend aus der Mode gekommen war. Er war, man kann es kaum anders sagen, ein Gentleman alter Schule. Schwerer wollener Überzieher, gelbe Chamoislederhandschuhe, akkurat gefalteter Schirm mit Bambusgriff – der leibhaftige Offizier eines britischen Traditionsregiments. Nur dass er keiner war.

Er sei Kanadier, hieß es, mit der kanadischen Luftwaffe hergekommen und geblieben. Geschichten kursierten über seine militärischen Heldentaten. Und irgendwann war er wohl auch Karikaturenzeichner gewesen. Tatsächlich hingen in der Stammkneipe der Redaktion einige seiner Werke. Es war die Art Lebenslauf, die eigentlich nur in der Feuilletonredaktion des ‘Mirror’ enden konnte. Lange bevor ich ihn kennenlernte, hatte er sich mit Abenteuergeschichten einen Namen gemacht, die er als ‘Danger Man’ unterzeichnete. Er tat sagenhafte Dinge, sprang mit dem Motorrad durch brennende Reifen, stieg in den Löwenkäfig, nur mit einem Stuhl bewaffnet. In seiner Jugend sei er ein famoser Kneipenschläger gewesen, erzählte man sich, der das Mobiliar einsetzte wie im besten Westernfilm. Ich jedoch habe ihn nie anders als ausgesucht höflich erlebt

Irgendwann hatte der ‘Mirror’ mehr Feuilletonschreiber angeheurt, als man eigentlich brauchte. Ein paar tauchten nie in der Redaktion auf, wie Eric. Sein Sportjacket – Daks, natürlich – hing über der Stuhllehne, so dass man sagen konnte, er sei nur kurz außer Haus und man könne ihn unter der und der Nummer erreichen, wenn jemand fragte. Die Nummer, munkelte man, gehörte zu einer Kaschemme in Soho, deren Anteilseigner er war. Wir haben sie nie angerufen, weil nie jemand fragte.

Jahre vergingen, und er wurde zum unsichtbaren, doch unzerstörbaren Mythos. Einmal reichte er eine Notiz ein, auf der er um Ernennung zum ‘Pubkorrespondenten’ bat. Der Chefredakteur ließ nachsehen, ob Eric überhaupt noch auf der Gehaltsliste stand. Ja, stand er. ‘Was zum Teufel treibt der Kerl eigentlich?’ ‘Sitzt die meiste Zeit im Pub’ kam es aus dem Redaktionsbüro. ‘Na dann’, sagte der Chef, ‘hat er den Titel zu Recht verdient’.”

Ungefähr ein Jahr nach meinem Weggang vom ‘Mirror’ erhielt ich einen Anruf vom Chefredakteur. Eric verlasse das Blatt, sagte er, und ich müsse unbedingt zur Abschiedsparty kommen. Niemand außer mir wisse, wie er eigentlich aussähe.”

War das ein Typ nach Ursulas Geschmack? Zumindest niemand, mit dem man sich langweilen würde. Aber war das überhaupt „unser“ Eric? Der zweite Internetfund verschaffte Klarheit über den ersten. Ich fand Eric als Randnotiz in einem kanadischen Stammbaum, sein Vater stammte tatsächlich aus Kanada.

Familie Wainwright

Die Urheberin des Stammbaums war begeistert, als ich ihr die Geschichte schilderte. In Windeseile suchte sie alles zusammen, was sie über diesen entlegenen Teil ihrer Familie wusste. Leider war es nicht allzu viel. Doch eines konnte sie mit Sicherheit sagen: Eric Wainwright war 1986 gestorben, und Ursula war nicht seine erste Frau gewesen. Es gab einen Sohn aus erster Ehe, den sich die hilfsbereite Familienforscherin zu finden bemühte. Kinder habe er nur aus erster Ehe, meinte sie zu wissen, und über seine zweite Ehefrau wusste sie leider nichts.

Mit ihren Informationen gelang es mir jedoch, eine Tochter des Sohnes aus Erics erster Ehe zu finden, die als Künstlerin eine eigene Internetseite hatte. Auch sie war sofort Feuer und Flamme und versprach, ihren Vater zu befragen, der sich tatsächlich bald darauf per Email meldete. Doch er hatte nie mit seinem Vater zusammengelebt und wusste nur zu berichten, dass dessen zweite Frau in den wenigen Gesprächen über sie, an die er sich erinnern konnte, “Minka” genannt wurde.

Eric schien auch nach den Worten seines Sohnes eine illustre Persönlichkeit gewesen zu sein. Karikaturist, Flieger der Royal Airforce im Zweiten Weltkrieg, von den Nazis abgeschossen und lange in deutscher Gefangenschaft, dreimal verheiratet, dreimal geschieden, Journalist, der wenig publizierte aber dafür gelegentlich umso mehr trank. Wenn man Erics Sohn aus erster Ehe sowie der kanadischen Cousine dritten Grades glauben konnte, hatten Eric und „Minka“ keine Kinder. War Peter Ursulas einziges Kind geblieben? (16/n)

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Einmal Kreuzberg und zurück


Wir saßen in der Linie 1 nach Kreuzberg. Dorthin, wo Peter als Pflegekind der Familie Salomon den größten Teil seiner Kindheit verbracht hatte. Als die Bahn sich dem Kottbusser Tor näherte, begann er, auf seinem Sitz herumzurutschen. Die Hochbahn! rief er. Die Berliner U-Bahn fährt auf dieser Strecke oberirdisch auf einer Stelzenkonstruktion – der Hochbahn, einem Wort, das ihm eben nach über sechzig Jahren wieder eingefallen war.

Hochbahn Kottbusser Tor
Hochbahn (Wikipedia CC BY-SA 4.0, by Roehrensee)

Am Kottbusser Tor funktionierten weder Rolltreppen noch Fahrstühle. Sarah humpelte die Treppen hinunter, Peter wartete geduldig, bis sie Stufe um Stufe unten anlangte. Dort empfing uns der Kotti in seiner abgewrackten Pracht: Obskure Gestalten, Unrat unter den Hochbahnstelzen und nackter Asphalt, der gnadenlos die Sonne reflektierte. Man sah, die beiden hatten sich das anders vorgestellt.

Ich steuerte Richtung Landwehrkanal, wo Kreuzberg netter war, die Straßen baumbestanden, die Altbauten und der Kanal malerisch. Während wir an türkischen Läden vorbeischlenderten, versuchte ich mir vorzustellen, wie die Straße 1942 ausgesehen haben mochte, welche Bilder jetzt in Peters Kopf abliefen. Aufmerksam lief er durch die Straßen seiner Kindheit, wachsam, als könne jeden Moment ein Gestapomann hinter der Ecke hervorspringen. Zugleich sog er jedes Detail in sich auf, zeigte hierhin und dorthin, als ob er alles zum ersten Mal sähe. Und er keuchte angestrengt, ich hatte ein wenig Angst um ihn. Sarah lief hinter uns, blieb wieder zurück. Ihre Hüfte, deutete sie entschuldigend, und: Alles in Ordnung, schien ihr Lächeln zu sagen, Ihr schafft das schon.

Am Landwehrkanal

Schließlich waren wir am Kanal angelangt und bogen Richtung Synagoge ab. In deren Hausmeisterwohnung die Familie Salomon mindestens bis Kriegsende gewohnt hatte, obwohl die Synagoge im November 1938 ausgebrannt war. Ein Zaun umgab das Gelände, Kameras hingen über dem Eingang, davor gelangweilt ein junger Uniformierter, Waffe im Halfter.

Peter blieb am Kanal stehen und blickte auf das Ensemble mit Mauern und Kameras. Hier, sagte er unvermittelt und klopfte aufs Geländer, da hat er gehangen, der tote Gestapomann, unser Nachbar. Und da – er deutete auf die Synagoge – da fehlt was. Rechts wo die Bäume stehen war noch ein Haus, ein großes Haus. Siehst Du die Bäume? und das Haus daneben? Das hört ganz plötzlich auf, wie abgeschnitten. Da fehlt was.

Ein paar Meter weiter entdeckte ich eine Gedenktafel mit einem Foto aus den 1920er Jahren, das rechts neben der heutigen kleinen Synagoge ein imposantes Gebäude zeigte, an dessen Stelle nun Bäume wuchsen. Siehst Du! rief Peter. Hier, die Stufen vor dem Eingang! Es gibt ein Foto von mir auf einem Dreirad, vor den Stufen. Wie hab ich Dir gesagt: Da war noch ein Haus. Ich hab das ganz richtig im Kopf gehabt. Die Übereinstimmung von Erinnerung und Bild freute ihn sichtlich.

Synagoge Kottbusser Ufer, ca. 1917 (Wikipedia)

Mutig erzählte ich dem Burschen mit Waffe, dass mein Begleiter als Kind hier gelebt habe, ob wir kurz hineindürften. Er schüttelte den Kopf und schaute durch mich hindurch, sein Walkie-Talkie quakte. Peter hatte abseits gestanden, doch nun fing er an, auf den Kerl einzureden, dessen Gesicht sich aufhellte. Es war israelisches Wachpersonal. Wie schon im Gartencafé am Ku’damm war Peter in seinem Element. Er gestikulierte, lachte, klopfte anerkennend dem Mann auf die Schulter, der sich in einen schüchternen Jungen verwandelte und Peter bewundernd musterte. Zwischendrin übersetzte der mir, dass gerade Gottesdienst und ein jüdischer Feiertag sei. Der Wachmann willigte ein, uns für einen Moment hineinzulassen. Doch Peter schaute nur kurz in die Räume, in denen sich die Gemeinde auf den Gottesdienst vorbereitete, ohne eine Spur des Wiederkennens.

Draußen lehnte Sarah müde am Geländer, über dem der tote Gestapomann so malerisch gehangen hatte. Nun aber wollten wir noch die zweite Adresse finden, die Fleischerei, in die die Familie Salomon nach Kriegsende gezogen war. Wir durchstreiften die Straßen hinter der Synagoge auf der Suche nach Hausnummer 16, aber wie auf dem Ku’damm hatten wir auch hier kein Glück.

Einer von hier

Nachdem wir die Straße dreimal auf- und abgegangen waren, fragte Peter schließlich einen älteren Türken, der auf dem Bürgersteig ein Kinderfahrrad reparierte. Im Grunde passte Peter mit seinem großen Schnurrbart und der hemdsärmligen Art, selbst mit seinem lückenhaften Deutsch perfekt in die Umgebung. Er wäre anstandslos als Kreuzberger Türke durchgegangen. Das schien auch der Mann mit dem Fahrrad zu denken, der sofort mit uns beratschlagte, wo Haus Nummer 16 geblieben sein könnte. Die Neubauten auf der linken Seite, da muss es gewesen sein. Hat man in den siebziger Jahren alles abgerissen, schade drum, gute Häuser. Das stimmte mit Peters Erinnerung an die Topographie seiner Kindheit überein. Neben der Schule hab ich gewohnt, sagte er. Und richtig befand sich auch heute dort, wiewohl in einem Neubau der siebziger oder achtziger Jahre, eine Schule.

Erst später sah ich auf einer historischen Karte von Berlin, wie nah sich die Synagoge und die Hausnummer 16 gewesen waren.

Berlin Kreuzberg 1935 (HistoMap)

Wieder hatten wir kein Haus gefunden. Auch das Hauptgebäude der Synagoge, in dem Peter gewohnt hatte, war weg. Doch Peter schien das nicht zu stören. Im Gegenteil, als wir uns wieder auf den Weg zum Kottbusser Tor machten, war er bester Laune. Kurz bevor wir an der Hochbahn anlangten, schlug er sich auf einmal vor den Kopf: Ein Foto! Ich wollte ein Foto von der Synagoge machen! Sarah lachte und verkündete, dies könnten wir gerne tun, sie für ihren Teil könne keinen Schritt weiter. Geht nur, geht! Zwischen Dealern und Pennern blieb sie auf einem Mäuerchen sitzen und winkte uns zu.

Peter und ich zogen also los, und mit jedem Schritt fiel die Anspannung von ihm ab. Er grüßte jovial jeden türkischen Händler, der zurückgrüßte, weil er ihn für einen alten Bekannten hielt, und erzählte einen Witz nach dem anderen. Vor der Synagoge drückte er dem Securitymann die Kamera in die Hand, der ein klassisches Foto von zwei grinsenden, sonnenbebrillten Touristen vor einer Kreuzberger Sehenswürdigkeit schoss. (16/x)

Zwei Touristen vor einer Kreuzberger Sehenswürdigkeit

Mr Wainwright

Wenn aus Ursula Lewkowitz in England Mrs Wainwright geworden war, musste ein Mr Wainwright existieren. Dankbarerweise gab es eine britische Internetplattform, auf der man sich jahrgangsweise durch die Register ziviler Eheschließungen in England arbeiten konnte. Gegen Geld selbstverständlich, doch mindestens musste man nicht, wie bei anderen Geschäftsmodellen mit ähnlichen Datenbanken, gleich ein Abonnement für ein ganzes Jahr abschließen.

Schließlich wurde ich fündig: Lewkowitz, Ursula, heiratete im dritten Quartal 1948 in London Mr Wainwright. Mr Wainwright fand ich im selben Zeitraum unter „W“: Wainwright, Eric W., heiratete im dritten Quartal 1948 in London Miss Lewkowitz. Mehr war dem Register nicht zu entnehmen; ich musste auf die Kopie der Heiratsurkunde warten, die man per Internet anfordern konnte.

Nach der Verwirrung durch die Karteikarte des Internationalen Suchdienstes, auf der „von Berlin dep.“ stand, war nun sicher, dass Ursula überlebt hatte und 1948 nachweislich in den Stand der Ehe getreten war. Die ITS-Karte enthielt entweder eine Fehlinformation oder Ursula war es gelungen, sich einem Deportationsbefehl zu entziehen, der in den Akten bereits verzeichnet war. Möglicherweise gehörte sie aber auch zu den wenigen Fällen, die von einer Deportation zurückgekehrt waren und die Lager überlebt hatten.

Noch wichtiger als das Rätsel der Karteikarte war die Frage nach dem englischen Ehemann. Wer war Eric W. Wainwright? Und an diese Frage schloß sich nahtlos eine zweite, noch drängendere an: Hatten Eric und Ursula Kinder, hatte Peter womöglich englische Geschwister?

Eheschließung von Ursula Lewkowitz mit Eric W. Wainwright, 14. August 1948

Die Eintragung der Heirat im Distrikt St. Pancras kam zwei Wochen später per Post. Eric William Wainwright, Sohn von Eric Foster Wainwright, war 32 Jahre alt und damit vier Jahre älter als Ursula, geschieden und von Beruf Journalist. Ursula war verzeichnet als ledig und Tochter des verstorbenen Simon Lewkowitz, „merchant“ (Kaufmann). Ein weiterer Hinweis darauf, dass Ihr Vater schon einige Jahre nicht mehr am Leben war. Am 14. August 1948 traten die beiden vor den Standesbeamten, um den Bund fürs Leben zu schließen.

(15/x)

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Sohn ist nicht Sohn

Ein anderes Archiv, das ich auf Empfehlung des Bundesarchivs angeschrieben hatte, um mehr über Familie Lewkowitz in der „Residentenliste“ herauszufinden, hatte zeitgleich den selben Gedanken: Sohn ist nicht gleich Sohn. Ein jüdisches Kind, das im Kinderheim und bei Pflegeeltern überlebt hat, war möglicherweise dort abgegeben worden, weil die Mutter es loswerden wollte.

Wiederum eine Archivarin (gab es männliche Archivare in Berlin?) teilte mir mit, es existiere im Brandenburgischen Landesarchiv eine Akte zu Ursulas Mutter Sara, im Bestand des Oberfinanzpräsidenten Berlin. Die Oberfinanzpräsidien, kurz OFP, waren diejenigen NS-Behörden, die die finanzielle Ausbeutung der Juden mit deutscher Gründlichkeit erledigten. Leider könne mir die Einsicht in das ca. 200 Seiten starke Konvolut aus den genannten Gründen nicht gestattet werden. Man könne nicht wissen, ob die Mutter wolle, dass… usw.

Vier Oberbetten und ein Klavier

Doch so wie ich gelernt hatte, dass deutsche und amerikanische Archive fundamental unterschiedlich waren, so lernte ich nun, dass auch jedes deutsche Archiv nicht nur nach den bestehenden Archivgesetzen, sondern nach ganz eigenen, schwer durchschaubaren Regeln arbeitet. Nachdem ich Einspruch erhoben, den Fall nochmals erläutert, sämtliche mögliche Nachweise erbracht sowie einen Monat geduldig gewartet hatte, lag eines Tages die dicke Chronik der finanziellen Ausplünderung der Sara Lewkowitz in ihrer ganzen Monstrosität auf meinem Tisch. Auf Gebühren und die angekündigten Kosten von 50 Cent pro kopierter Seite hatte man verzichtet.

OFP-Akten Richard und Sara Kellermann, Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Rep. 36 A (Titelseite)
OFP-Akte Kellermann, Brandenburgisches Landeshauptarchiv

Aus ihr erfuhr ich nicht nur, dass Sara Lewkowitz vier Oberbetten und ein Klavier besessen hatte, und zu welchen Preis der Auktionator diese zu Gunsten des Deutschen Reiches nach der „Evakuierung“ ihrer Vorbesitzerin „nach Osten“ versteigert hatte, sondern auch, dass Sara nicht allein deportiert worden war. Richard „Israel“ Kellermann, ihr zweiter Ehemann, „jüdisch versippt“ und evangelisch getauft, war mit ihr gemeinsam von der Gestapo verhaftet, verhört, ausgeplündert und auf die Reise nach Osten geschickt worden.

Laut der Gedenkbuchdatenbank des Bundesarchivs wurden Sara und ihr Mann Richard am 14. April 1942 von Berlin aus ins Warschauer Ghetto deportiert. Mit Datum vom 12. April 1942 listeten Richard und Sara Kellermann für die Gestapo feinsäuberlich ihr Vermögen, ihren Hausrat und sonstige Wertgegenstände auf, damit diese geordnet und vollständig dem Deutschen Reich zufallen konnten.

(14/x)

Die Kinder von Bergen-Belsen

Wir arbeiteten seit zwei Monaten an diesem Projekt, ohne echte Fortschritte. Immer noch hatten wir keinen Beleg, was wirklich mit Peters Mutter passiert war, warum die Salomons ein fremdes Kind zu sich nahmen und den ganzen Krieg hindurch beschützten wie ihr eigenes, ganz zu schweigen vom Rätsel ihres geordneten und normal wirkenden Lebens in Berlin, inmitten von Nazis und Bombenangriffen.

Ich bat Dani, nochmals mit dem Ehemann seiner Kollegin zu sprechen. Egal wie schüchtern der Mann war, wenn er mehr über seine Mutter erfahren wollte, musste er seine Erinnerungen teilen. Dani machte einen Termin mit Peter und berichtete:

„I spoke with Peter and he did not come up with much more new information, except that: 1) the last time he saw Charlotte, his adopted mother, was after the war when an American bomb had wounded him in the eye and her in the leg. The soldiers took them to different hospitals. 2) In Bergen-Belsen he first met the soldiers of the Jewish Brigade who later took him with a group of Jewish children to Israel. 3) He does not know anything about the Salomons’ intention to send him to England or to join them in the U.S.A. 4) Peter believes that his father is Hans Salomon. He has two excuses for that: First, everyone says that he looks like his brother Kurt, and second, he believes that reasonable people will not take a child unless it belongs to them somehow. I am not sure about that because one can also say that a reasonable Jew will not dare bringing into that horrible world of those days a new Jewish baby (Kurt).“

Dies erhellte einiges, warf jedoch neue Fragen auf und ließ meine Neugier unbefriedigt. Peter meinte, er sei bei einem Bombenangriff von seiner Pflegemutter getrennt worden, datierte dies jedoch auf die Zeit nach Kriegsende, was logisch unmöglich war. An die Abreise nach England erinnerte er sich nicht, nur daran, dass er von Soldaten der jüdischen Brigade von Bergen-Belsen nach Palästina gebracht worden sei. Wie jedoch gelangte er von Berlin nach Bergen-Belsen?

Auf den ersten Blick scheint absurd, dass ein jüdisches Kind aus Berlin in Bergen-Belsen landete, dem Ort eines des größten Nazi-Konzentrationslager auf reichsdeutschem Boden. Doch Belsen, wie es genannt wurde, war in der Zwischenzeit in ein Lager für „displaced persons“, kurz DPs, umgewandelt worden. Die ersten Belsener DPs waren die ehemaligen Lagerinsassen, die am 15. April 1945 von britischen Truppen mehr tot als lebendig auf dem Lagergelände angetroffen worden waren.

Weil die meisten der befreiten Insassen keine Heimat und Familie mehr hatten, zu der sie hätten zurückkehren können, richteten die Alliierten ein Auffanglager in den neben dem KZ befindlichen Militärbaracken ein. Die Britische Armee, in deren Zone das Lager lag, und später auch die UN-Flüchtlingsorganisation UNRRA, eröffneten Büros zur medizinischen und sozialen Versorgung der Überlebenden sowie Suchdienste zur Familienzusammenführung.

So wurde Belsen ein Magnet für heimatlose Überlebende auf der Suche nach Nahrung, Hilfe und überlebenden Verwandten. Auf dem Höhepunkt seiner Belegung befanden sich 12.000 jüdische Überlebende im DP-Lager Belsen und so verlegten die meisten Hilfsorganisationen ihr Hauptquartier in der britischen Zone dorthin.

Überlebende mit Kind auf der Krankenstation des DP-Lagers Bergen-Belsen; Imperial War Museum London

Bemerkenswerterweise wurde Bergen-Belsen der Ort in Europa, an dem der Reichtum und die kulturelle Vielfalt jüdischen Lebens in Osteuropa ein letztes Mal aufblühten. Und dies in einem Tempo, das all das Grauen, das hinter ihnen lag, zu kompensieren wollen schien. Es gab jiddisches Theater, Musik und Literatur, Zeitungen, Schulen und Kindergärten, Berufsausbildung und nicht zuletzt politische Aktivitäten, die meist zionistisch waren und versuchten, die Politik der Alliierten gegenüber den DPs zu beeinflussen. In Belsen gründeten die jüdischen Überlebenden der westlichen Besatzungszonen auch eine politische Selbstvertretung, das „Zentralkomitte der befreiten Juden“ unter Führung des charismatischen Auschwitz-Überlebenden Josef (Jossele) Rosensaft. Die Geburtenrate war die höchste, die jemals bei einer jüdischen Gemeinde gemessen wurde. So viel Tod und Verzweiflung lagen hinter den Befreiten, so groß war der Hunger nach Leben. Erst viel später erfuhr ich, dass auch Dani im Frühjahr 1946 in einem Krankenhaus nicht weit von Bergen-Belsen geboren war.
Doch wie kam Peter von Berlin dorthin? Und wann?

Peters Vermutung, dass Hans Salomon sein leiblicher Vater gewesen war, bot für viele Fragen eine einfache Erklärung – warum die Salomons trotz der Umstände sich mit einem Kind hätte belasten sollen, das sie vor allen Gefahren beschützten, vielleicht sogar unter Einsatz ihres eigenen Lebens und das ihres jüngsten Kindes Kurt, und auch, wieso sie Peter wie einen leiblichen Sohn vermissten. Doch wenn Peter das Produkt eines außerehelichen Affäre war, hätte dann nicht Hans seiner Frau dies gebeichtet, da es die einzige Chance war, das Kind wiederzubekommen, an dem auch sie wie an einem eigenen Sohn hing?

Hans und Charlotte waren beide lange tot, Peters Erinnerungen blieben vage, und unser Wissen über seine Mutter beschränkte sich auf ihren Namen und eine Adresse, die nirgendwohin führte. Nicht genug um zu entscheiden, ob sie 1937 eine Beziehung mit einem verheirateten, ungefähr 35jährigen Hausmeister einer Berliner Synagoge gehabt haben könnte.

(13/x)