Sohn ist nicht Sohn

Ein anderes Archiv, das ich auf Empfehlung des Bundesarchivs angeschrieben hatte, um mehr über Familie Lewkowitz in der „Residentenliste“ herauszufinden, hatte zeitgleich den selben Gedanken: Sohn ist nicht gleich Sohn. Ein jüdisches Kind, das im Kinderheim und bei Pflegeeltern überlebt hat, war möglicherweise dort abgegeben worden, weil die Mutter es loswerden wollte.

Wiederum eine Archivarin (gab es männliche Archivare in Berlin?) teilte mir mit, es existiere im Brandenburgischen Landesarchiv eine Akte zu Ursulas Mutter Sara, im Bestand des Oberfinanzpräsidenten Berlin. Die Oberfinanzpräsidien, kurz OFP, waren diejenigen NS-Behörden, die die finanzielle Ausbeutung der Juden mit deutscher Gründlichkeit erledigten. Leider könne mir die Einsicht in das ca. 200 Seiten starke Konvolut aus den genannten Gründen nicht gestattet werden. Man könne nicht wissen, ob die Mutter wolle, dass… usw.

Vier Oberbetten und ein Klavier

Doch so wie ich gelernt hatte, dass deutsche und amerikanische Archive fundamental unterschiedlich waren, so lernte ich nun, dass auch jedes deutsche Archiv nicht nur nach den bestehenden Archivgesetzen, sondern nach ganz eigenen, schwer durchschaubaren Regeln arbeitet. Nachdem ich Einspruch erhoben, den Fall nochmals erläutert, sämtliche mögliche Nachweise erbracht sowie einen Monat geduldig gewartet hatte, lag eines Tages die dicke Chronik der finanziellen Ausplünderung der Sara Lewkowitz in ihrer ganzen Monstrosität auf meinem Tisch. Auf Gebühren und die angekündigten Kosten von 50 Cent pro kopierter Seite hatte man verzichtet.

OFP-Akten Richard und Sara Kellermann, Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Rep. 36 A (Titelseite)
OFP-Akte Kellermann, Brandenburgisches Landeshauptarchiv

Aus ihr erfuhr ich nicht nur, dass Sara Lewkowitz vier Oberbetten und ein Klavier besessen hatte, und zu welchen Preis der Auktionator diese zu Gunsten des Deutschen Reiches nach der „Evakuierung“ ihrer Vorbesitzerin „nach Osten“ versteigert hatte, sondern auch, dass Sara nicht allein deportiert worden war. Richard „Israel“ Kellermann, ihr zweiter Ehemann, „jüdisch versippt“ und evangelisch getauft, war mit ihr gemeinsam von der Gestapo verhaftet, verhört, ausgeplündert und auf die Reise nach Osten geschickt worden.

Laut der Gedenkbuchdatenbank des Bundesarchivs wurden Sara und ihr Mann Richard am 14. April 1942 von Berlin aus ins Warschauer Ghetto deportiert. Mit Datum vom 12. April 1942 listeten Richard und Sara Kellermann für die Gestapo feinsäuberlich ihr Vermögen, ihren Hausrat und sonstige Wertgegenstände auf, damit diese geordnet und vollständig dem Deutschen Reich zufallen konnten.

(14/x)

Die Kinder von Bergen-Belsen

Wir arbeiteten seit zwei Monaten an diesem Projekt, ohne echte Fortschritte. Immer noch hatten wir keinen Beleg, was wirklich mit Peters Mutter passiert war, warum die Salomons ein fremdes Kind zu sich nahmen und den ganzen Krieg hindurch beschützten wie ihr eigenes, ganz zu schweigen vom Rätsel ihres geordneten und normal wirkenden Lebens in Berlin, inmitten von Nazis und Bombenangriffen.

Ich bat Dani, nochmals mit dem Ehemann seiner Kollegin zu sprechen. Egal wie schüchtern der Mann war, wenn er mehr über seine Mutter erfahren wollte, musste er seine Erinnerungen teilen. Dani machte einen Termin mit Peter und berichtete:

„I spoke with Peter and he did not come up with much more new information, except that: 1) the last time he saw Charlotte, his adopted mother, was after the war when an American bomb had wounded him in the eye and her in the leg. The soldiers took them to different hospitals. 2) In Bergen-Belsen he first met the soldiers of the Jewish Brigade who later took him with a group of Jewish children to Israel. 3) He does not know anything about the Salomons’ intention to send him to England or to join them in the U.S.A. 4) Peter believes that his father is Hans Salomon. He has two excuses for that: First, everyone says that he looks like his brother Kurt, and second, he believes that reasonable people will not take a child unless it belongs to them somehow. I am not sure about that because one can also say that a reasonable Jew will not dare bringing into that horrible world of those days a new Jewish baby (Kurt).“

Dies erhellte einiges, warf jedoch neue Fragen auf und ließ meine Neugier unbefriedigt. Peter meinte, er sei bei einem Bombenangriff von seiner Pflegemutter getrennt worden, datierte dies jedoch auf die Zeit nach Kriegsende, was logisch unmöglich war. An die Abreise nach England erinnerte er sich nicht, nur daran, dass er von Soldaten der jüdischen Brigade von Bergen-Belsen nach Palästina gebracht worden sei. Wie jedoch gelangte er von Berlin nach Bergen-Belsen?

Auf den ersten Blick scheint absurd, dass ein jüdisches Kind aus Berlin in Bergen-Belsen landete, dem Ort eines des größten Nazi-Konzentrationslager auf reichsdeutschem Boden. Doch Belsen, wie es genannt wurde, war in der Zwischenzeit in ein Lager für „displaced persons“, kurz DPs, umgewandelt worden. Die ersten Belsener DPs waren die ehemaligen Lagerinsassen, die am 15. April 1945 von britischen Truppen mehr tot als lebendig auf dem Lagergelände angetroffen worden waren.

Weil die meisten der befreiten Insassen keine Heimat und Familie mehr hatten, zu der sie hätten zurückkehren können, richteten die Alliierten ein Auffanglager in den neben dem KZ befindlichen Militärbaracken ein. Die Britische Armee, in deren Zone das Lager lag, und später auch die UN-Flüchtlingsorganisation UNRRA, eröffneten Büros zur medizinischen und sozialen Versorgung der Überlebenden sowie Suchdienste zur Familienzusammenführung.

So wurde Belsen ein Magnet für heimatlose Überlebende auf der Suche nach Nahrung, Hilfe und überlebenden Verwandten. Auf dem Höhepunkt seiner Belegung befanden sich 12.000 jüdische Überlebende im DP-Lager Belsen und so verlegten die meisten Hilfsorganisationen ihr Hauptquartier in der britischen Zone dorthin.

Überlebende mit Kind auf der Krankenstation des DP-Lagers Bergen-Belsen; Imperial War Museum London

Bemerkenswerterweise wurde Bergen-Belsen der Ort in Europa, an dem der Reichtum und die kulturelle Vielfalt jüdischen Lebens in Osteuropa ein letztes Mal aufblühten. Und dies in einem Tempo, das all das Grauen, das hinter ihnen lag, zu kompensieren wollen schien. Es gab jiddisches Theater, Musik und Literatur, Zeitungen, Schulen und Kindergärten, Berufsausbildung und nicht zuletzt politische Aktivitäten, die meist zionistisch waren und versuchten, die Politik der Alliierten gegenüber den DPs zu beeinflussen. In Belsen gründeten die jüdischen Überlebenden der westlichen Besatzungszonen auch eine politische Selbstvertretung, das „Zentralkomitte der befreiten Juden“ unter Führung des charismatischen Auschwitz-Überlebenden Josef (Jossele) Rosensaft. Die Geburtenrate war die höchste, die jemals bei einer jüdischen Gemeinde gemessen wurde. So viel Tod und Verzweiflung lagen hinter den Befreiten, so groß war der Hunger nach Leben. Erst viel später erfuhr ich, dass auch Dani im Frühjahr 1946 in einem Krankenhaus nicht weit von Bergen-Belsen geboren war.
Doch wie kam Peter von Berlin dorthin? Und wann?

Peters Vermutung, dass Hans Salomon sein leiblicher Vater gewesen war, bot für viele Fragen eine einfache Erklärung – warum die Salomons trotz der Umstände sich mit einem Kind hätte belasten sollen, das sie vor allen Gefahren beschützten, vielleicht sogar unter Einsatz ihres eigenen Lebens und das ihres jüngsten Kindes Kurt, und auch, wieso sie Peter wie einen leiblichen Sohn vermissten. Doch wenn Peter das Produkt eines außerehelichen Affäre war, hätte dann nicht Hans seiner Frau dies gebeichtet, da es die einzige Chance war, das Kind wiederzubekommen, an dem auch sie wie an einem eigenen Sohn hing?

Hans und Charlotte waren beide lange tot, Peters Erinnerungen blieben vage, und unser Wissen über seine Mutter beschränkte sich auf ihren Namen und eine Adresse, die nirgendwohin führte. Nicht genug um zu entscheiden, ob sie 1937 eine Beziehung mit einem verheirateten, ungefähr 35jährigen Hausmeister einer Berliner Synagoge gehabt haben könnte.

(13/x)

Mrs Wainwright, deportiert

Am selben Tag als Dani mir die Meldekarte der Familie Lewkowitz aus Posen schickte, erhielt ich eine Email aus Washington, DC. Es war die Antwort auf meine Anfrage beim US Holocaust Memorial Museum (USHMM) über Bestände des bisher unzugänglichen ITS Arolsen. Der nächste Meilenstein. Sechs Wochen nach meiner Anfrage schrieb mir das USHMM, es gebe eine Karte zu Ursula Lewkowitz im Zentralen Namensindex des Suchdienstes, und schickte mir diese als Scan. Auch zwei Karteikarten aus Berlin habe man gefunden, die ebenfalls der Email beigefügt wurden.

Während Institutionen wie das ITS Arolsen vor die Preisgabe ihrer kostbaren Archivalien hohe Hürden setzten, wie komplizierte Formulare, Berechtigungsnachweise und Vollmachten, und dabei vom Antragsteller Demut gegenüber dem Archiv einforderten, an dessen Spielregeln man sich zu halten hatte, bekam ich die gleichen Akten via Washington mit dem größtmöglichen Entgegenkommen und großer Freundlichkeit frei Haus. Als ich tatsächlich eine ganze Reihe Nachfragen hatte, rief mich die zuständige USHMM-Archivarin in Washington, nach vorheriger Klärung von Zeitzonen und Bürozeiten, schlicht und ergreifend an und erklärte mir alles.
Und Fragen ergaben sich aus der übersandten Karteikarte zu Ursula Lewkowitz in der Tat.

Karteikarte zu Ursula Lewkowitz, ITS Arolsen (Zentraler Namensindex, ZNI)

Eben noch waren wir sicher gewesen, dass Ursula nach England entkommen war. Die Karteikarte aus Arolsen warf alles wieder um. Denn auf ihr stand zweierlei: Ein englischer Nachname – “verh. Wainwright” – nebst ihrem schon bekannten Geburtsort und -datum. Doch darunter der Zusatz: “v. Berlin, dep.”. Nach Auskunft der amerikanischen Archivarin bedeuete dieses Kürzel genau das, was ich vermutete: von Berlin, deportiert.

War sie nach Nazideutschland zurückgekehrt? Um ihre Mutter und ihren Sohn nachzuholen? Doch wäre eine deutsche Jüdin, die es außer Landes geschafft hatte, auf so eine wahnwitzige Idee verfallen? Durften einmal emigrierte Juden überhaupt wieder ins Dritte Reich einreisen? Und nicht zuletzt: War damit Danis Shanghai-Theorie über den Haufen geworfen, da wir hier ein passendes Geburtsdatum hatten, während die Passagierliste aus San Francisco nur passendes Alter und Geburtsort enthielt? Alles löste sich in Möglichkeiten auf. Was war wirklich mit Ursula passiert? Hatte sie in England geheiratet und überlebt, war sie ins Dritte Reich zurückgekehrt und deportiert worden, oder doch nach Shanghai geflohen und von dort in die USA ausgewandert?

Auch die freundliche amerikanische Archivarin konnte nicht weiterhelfen. Es gäbe die unglaublichsten Lebensläufe, man könne nichts ausschließen. Auch die Möglichkeit nicht, dass die Karte falsche Informationen enthielte. Ich musste an die Quelle der Arolsen-Karte heran. „EA Berlin“ konnte die Archivarin in Washington auflösen: Es handelte sich um die Behörde, die ab Mitte der 1950er Jahre Anträge auf „Wiedergutmachung“ bearbeitete, wie die Bundesrepublik die Zahlungen an Verfolgte des NS-Regimes euphemistisch nannte.

Zu meiner Überraschung stellte sich heraus, dass das Entschädigungsamt Berlin immer noch existierte und sein Archiv selbst verwaltete. Das Prozedere zur Akteneinsicht war ganz made in Germany: Antragstellung auf Benutzung, Berechtigungsnachweis, einmal monatlich Akteneinsicht mit Termin. Immerhin hatte das Amt eine Emailadresse.

Die Karteikarte aus Berlin, die ich ebenfalls via Washington bekam, war nicht minder interessant. Es war offensichtlich eine alte Einwohnerkartei, die sämtliche Adressen auflistete, unter denen Ursula zwischen 1936 und 1939 gemeldet war. Vom 1. März bis zum 9. Juni 1938, also rund um Peters Geburt, hatte sie die mütterliche Wohnung auf dem Kudamm verlassen und war nach Wilmersdorf gezogen, in die Ravensberger Straße, die wir von Peters Geburtsurkunde kannten. Unter diesem Eintrag stand schlecht leserlich ein Name, Rinke? Linke?

Einwohnermeldekarte Ursula Lewkowitz (Vorderseite)
Einwohnermeldekarte Ursula Lewkowitz (Rückseite)

Das Berliner Adreßbuch half: “Simke, Berta Ww.”. Eine Wilmersdorfer Witwe, die in Berlin als besonders konservativ und gutbürgerlich galten, nahm 1938 eine achtzehnjährige, schwangere Jüdin als Untermieterin auf. Musste Ursula verschwinden, damit die Nachbarn auf dem feinen Kudamm nichts von ihrem Zustand mitbekamen? Oder verheimlichte sie gar der Mutter ihre Schwangerschaft?

Mit meinen Überlegungen kam ich nicht weit. Auch deswegen, weil sich schon am nächsten Tag das Entschädigungsamt meldete:
„Ich kann Ihnen mitteilen, dass für Frau Ursula Wainwright, geb. Lewkowitz hier ein Vorgang unter der Reg.Nr. 407 742 besteht. Ich werde mir die Akte aus unserem externen Archiv anfordern und mich wieder bei Ihnen melden, nachdem ich die Akte einsehen konnte.“

Die Ernüchterung folgte auf dem Fuße:
„Mir liegt nun die Akte mit der Reg.Nr. 407 742 vor. Leider muß ich Ihnen mitteilen, dass die Akte gemäß § 8 Abs. 3 des Gesetzes über die Sicherung und Nutzung von Archivgut des Landes Berlin noch der Schutzfrist unterliegt und somit weder Auskünfte erteilt werden dürfen noch Einsicht gewährt werden darf.“

Vor Wochen schon hatte ich Dani um Vollmachten von Peter gebeten und einen ganzen Stapel davon in der Schublade, mit denen ich den deutschen Amtsschimmel fütterte. Mit welcher Begründung wollte man mir, mit einer Vollmacht des Sohnes ausgestattet, die Einsichtnahme verweigern? Der zitierte § 8 Abs. 3 des Archivgesetzes besagte nämlich: „Die Schutzfrist gilt nicht für die Nutzung durch die Betroffenen oder ihre Angehörigen.“ Der Mitarbeiterin des Entschädigungsamtes war die Sache unangenehm. Da man nicht wisse, ob die Mutter noch lebe und wolle, dass ihr Sohn Einsicht bekäme, müsse man die Anfrage abschlägig beantworten. Sie lege jedoch den Fall ihrem Vorgesetzten vorg. Ich durchforstete gedanklich meinen Bekanntenkreis nach Rechtsanwälten.

Doch einstweilen half alles nichts: Die Lösung des Rätsels „v. Berlin, dep.“ musste warten.

(12/x)

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Familie Lewkowitz

Während ich vom Bundesarchiv den ersten Meilenstein per Post bekam, war Dani nicht untätig. Er hatte seine Fühler nach Posen ausgestreckt, noch bevor klar war, ob die englische Ursula tatsächlich die Gesuchte war. Ein polnischer Historiker besorgte ihm aus dem Posener Staatsarchiv eine Kopie der Einwohnermeldekarte einer Familie Lewkowitz – und BINGO.

Die handschriftlichen Einträge, die ich mit viel Geduld und Spucke entzifferte, gaben Gewissheit, dass die Frau, die mit Ursula zusammen in der Volkszählung erfasst worden war, tatsächlich ihre Mutter war. Plötzlich lag da die ganze Familie ausgebreitet – Vater Simon, Mutter Sara, und Ursulas zehn Jahre älterer Bruder Max. Selbst die Eltern des Vaters waren genannt, Mendel und Rosalie, geborene Posener, sowie ein weiterer Bruder, der nur einen Tag gelebt hatte. 1921 war die Familie nach Berlin gezogen, vielleicht weil Posen nach dem Ersten Weltkrieg polnisch wurde. Der Vater Simon hatte in Posen ein Schuhgeschäft gehabt und seine Frau Sara 1883 geheiratet, in ihrem Heimatort Miloslaw.

Einwohnermeldekarte der Familie Lewkowitz, Staatsarchiv Poznan

Simon, Sara, Max Lewkowitz: kein Eintrag im deutschen Gedenkbuch, keiner bei Yad Vashem oder in anderen Datenbanken – nichts. Konnte die ganze Familie den Holocaust überlebt haben? Doch Sara hatte ich gerade im Berliner Adressbuch als „Witwe“ gefunden, ihr Mann Simon musste also vor 1943 verstorben sein. So fand ich schließlich, Jahr um Jahr rückwärts blätternd, auch Simon Lewkowitz und sein Berliner Schuhgeschäft, das ab 1921 im Adressbuch stand. Ab 1932 war nur noch das Geschäft gelistet, 1937 hörten auch diese Einträge auf. Seine Frau Sara war allein 1935 im Namensverzeichnis zu finden: “Ww., W 15 Kurfürstendamm”. Im nach Straßen geordneten Teil tauchte sie erst ab 1939, doch dann durchgängig bis 1943 als “Lewkowitz, S., Ww.” auf dem Kudamm auf. Auf diese Weise ließ sich Simons Sterbedatum auf die Jahre zwischen 1932 und 1935 einkreisen.

Bis vor kurzem hatte Peter von seiner Mutter nicht mehr als deren Namen gewusst. Nun hatte er bereits Großeltern und Onkel. Vermutlich alle tot, aber: nunja.

(11/x)

Volkszählung ’39

Der erste richtige Durchbruch kam aus einer anderen Richtung, zwei Tage nachdem mir Dani die Shanghai-Theorie unterbreitet hatte. Das größte Problem war das Fehlen von Daten zu Peters Mutter. Sie stand in keinem Adressbuch, in keiner Datenbank von Opfern oder Überlebenden, in keinem weltweiten genealogischen Verzeichnis. Aber ohne Geburtsjahr und -ort konnten auch die Standesämter nicht weiterhelfen.

Auf der Suche nach weiteren Quellen war ich auf eine sehr spezielle Sammlung von Personendaten im Deutschen Reich gestoßen, der Volkszählung 1939.

Ziel dieser Volkszählung im Mai 1939 war die lückenlose Registrierung aller Juden, die trotz der Verfolgungsmaßnahmen immer noch im Deutschen Reich lebten. Zu diesem Zweck musste jeder Haushalt eine Karteikarte mit Namen, Anschrift, Konfession und Bildungsgrad seiner Mitglieder ausfüllen. Auf einer separaten Karte musste jede Person angeben, wieviele Großelternteile den Nürnberger Gesetzen nach „der jüdischen Rasse“ angehört hatten. Diese Ergänzungskarten zur Volkszählung 1939 befinden sich heute im Bundesarchiv Berlin und enthalten Namen, Geburtsdatum und -ort, Wohnanschrift zum Zeitpunkt der Volkszählung sowie die Anzahl der jüdischen Großelternteile.

Ergänzungskarte der Volkszählung 1939 für Leo Baeck; Quelle: Bundesarchiv

Wegen des schlechten Zustands der Karten war die Einsicht in die Originale nicht möglich. Das Bundesarchiv hatte jedoch aus den Ergänzungskarten eine Datenbank zusammengestellt und um andere Personendatenquellen zu einer „Liste jüdischer Residenten im Deutschen Reich 1933-1945“ ergänzt. Im Gegensatz zur Gedenkbuch-Datenbank enthielt diese „Residentenliste“ auch Informationen über Personen, die den Holocaust überlebt haben. Daher war sie nicht online zugänglich, denn einige dieser Personen leben noch und haben ein Recht auf den Schutz ihrer persönlichen Daten.

Das Bundesarchiv gab jedoch schriftlich Auskünfte aus der Datenbank, und so kam zwei Wochen später Antwort:
„In den Ergänzungskarten für Angaben über Abstammung und Vorbildung (Volkszählung vom 17. Mai 1939), enthalten im Bestand R 1509 Reichssippenamt, konne ich Ursula Lewkowitz ermitteln. Wie Sie aus beiliegender Kopie ersehen, wohnte sie mit Sara Lewkowitz in einem Haushalt. Peter Ruben Lewkowitz befand sich am 17.05.1939 im Säuglings- und Kinderheim Moltkestr. 8/11.“

Als ich das Schreiben aus dem Briefkasten zog, dauerte es etwas bis ich begriff, welchen Fortschritt das bedeutete. Zum ersten Mal hatten wir einen Nachweis der Existenz von Peters Mutter jenseits seiner Geburtsurkunde. Wir wussten nun sogar den Namen einer Angehörigen, vielleicht ihrer Mutter. Zudem hatte Hans Salomon nicht gelogen als er angab, dass das Kind aus dem Kinderheim kam. Das Jüdische „Säuglings- und Kinderheim“ befand sich in Berlin-Niederschönhausen, genau wie er 1958 an Dr. Bloch geschrieben hatte.

Das Bundesarchiv hatte über diese drei Personen weitere Information aus den Ergänzungskarten zur Volkszählung und schickte einen Auszug aus der Datenbank:

Recherche in: Berlin
Name: Lewkowitz Sara
Mädchenname: Posener Geburtsdatum: 25.06.1883
Geburtsort: Miloslaw, Abstammung: JJJJ
Wohnort: [Berlin-]Charlottenburg
Anschrift: Kurfuerstendamm 38

Recherche in: Berlin
Name: Lewkowitz Ursula
Mädchenname: Geburtsdatum: 22.11.1919
Geburtsort: Poznan (Posen), Abstammung: JJJJ
Wohnort: [Berlin-]Charlottenburg
Anschrift: Kurfuerstendamm 39

Recherche in: Berlin
Name: Lewkowitz Peter
[handschriftlich hinzugefügt:] Ruben
Mädchenname: Geburtsdatum: 22.05.1938
Geburtsort: Berlin Abstammung: JJJJ
Wohnort: [Berlin-] Niederschoenhausen
Anschrift: Moltkestr. 8/11, Heim für Säuglinge und Kleinkinder

Geburtsort und -datum waren mit denen der in England als „Enemy Alien“ registrierten Ursula identisch. Peters Mutter war tatsächlich nach England entkommen und hatte dort aller Wahrscheinlichkeit nach den Krieg überlebt. Sie war nicht ermordet worden sondern vielleicht noch am Leben. Die Vision, den siebzigjährigen Sohn mit seiner neunzigjährigen Mutter bekanntzumachen, wurde zu einer Möglichkeit. Die Vorstellung machte mich etwas schwindlig.

Provinz Posen um 1905, Miloslaw rot unterstrichen; via Wikipedia

Und wer war Sara Lewkowitz, geb. Posener, 1883 in Miloslaw geboren? Den kleinen Ort Miloslaw fand ich in der ehemaligen Provinz Posen, heute Polen. Auch die englische Ursula von 1939 stammte aus Posen. War Sara Ursulas Mutter? Auch die Wohnanschrift verriet etwas über die beiden Frauen. Der Kurfürstendamm, Berlinern als Kudamm bekannt, war und ist eine der feinsten Adressen des alten Westberlins. Wenn Ursula und Sara auf diesem Boulevard gewohnt hatten, waren sie vermutlich nicht aus armen Verhältnissen. Dennoch hatten sie zu einem unbestimmten Zeitpunkt beschlossen, den kleinen Peter ins Heim zu geben.

Als ich Sara Lewkowitz in den zeitgenössischen Berliner Adressbüchern suchte, fand ich – keinen Eintrag. Erst als mir die Idee kam, es im Teil zu versuchen, der nach Straßen geordnet war, fand ich sie an der angegebenen Adresse: „Lewkowitz, S., Ww.“, von 1939 bis zum letzten Berliner Kriegsadressbuch 1943 stets mit der Anschrift auf dem Kudamm. Sie war also verwitwet, wie das „Ww.“ (Witwe) sagte. Falls sie tatsächlich Ursulas Mutter war, musste der Vater vor 1939 verstorben sein. Nach ashkenasischer Tradition hätte Peters zweiter Vorname Ruben der des Großvaters sein können. Meine Eingebung, Ruben Lewkowitz in den gängigsten Datenbanken zu suchen, lief jedoch ins Leere. Wenig verwunderlich, denn Sara Lewkowitz konnte schlicht eine beliebige weibliche Verwandte von Ursula sein.

Im Schwung der Begeisterung, endlich verlässliche Daten über Peters Mutter gefunden zu haben, übersah ich zunächst die zweite wichtige Information, die das Schreiben vom Bundesarchiv enthielt. In der Residentenliste, so schrieb die Archivarin, habe sie auch einen Datensatz über einen Jungen namens Peter Salomon gefunden, geboren am selben Tag wie Peter Ruben Lewkowitz in Berlin. Doch sie könne nicht entscheiden, ob es sich um die selbe Person handelte, und bat mich, ihr mitzuteilen, was ich über eine mögliche Identität wüsste. Da das Schreiben eine Telefonnummer enthielt, griff ich zum Hörer und versuchte zu erklären, wieso beide Peters höchstwahrscheinlich identisch waren, und fragte nach der Herkunft der Daten über Peter Salomon. Denn dies war – ebenso wie der erste Beleg der Existenz von Ursula jenseits der Geburtsurkunde ihres Sohnes – der erste Nachweis, den wir über Peters Zeit bei der Familie Salomon hatten.

Die freundliche Archivarin konnte mir jedoch nicht weiterhelfen, der Datensatz stammte offenbar von einer anderen Institution und enthielt nichts weiter als Name und Geburtsdatum. Sie verwies mich ans Landesarchiv Berlin, das ihrer Ansicht nach diesen Teil der Datenbank erarbeitet hatte.

(10/x)