In einem Garten in Berlin
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Der Junitag war heiß, Frühsommer in Berlin. Mein Kopf war matschig und alles klebte. Ich sehnte mich nach einem schattigen Plätzchen, einem kühlen Getränk, einer Dusche. Aber später.

Kudamm 39
Seit Stunden wanderten wir den Kudamm auf und ab auf der Suche nach dem Haus, in dem Ursula und ihre Mutter gewohnt hatten, damals, 1939. Wie schwer konnte es sein, ein Haus auf der bekanntesten Straße Westberlins zu finden. Doch wo ich die Adresse auf der Karte markiert hatte, befand sich ein ästhetisch anspruchsloses Nachkriegsgebäude, ein gesichtsloser Firmensitz. Natürlich konnte das Haus im Krieg zerstört worden sein. Doch ich vermutete, dass man nach 1945 die Hausnummern neu vergeben hatte, und suchte nach verblichenen Nummern; vergeblich.
Da befanden wir endlich am Ort des Geschehens, und ich war nicht in der Lage, ein Haus zu finden. Sehr ernüchternd. Die Israelis hatten weniger Probleme mit der Hitze als ich. Sie waren auch viel weniger frustriert. Für sie war alles in Berlin neu und aufregend, während ich in meiner Rolle als Guide gerade schwitzend versagte. Doch merkte ich, dass auch Sarah nicht mehr konnte. Immer öfter blieb sie zurück und winkte uns fröhlich, nicht auf sie zu warten. Nicht nur ich, auch meine siebzigjährigen Begleiter brauchten eine Pause.
In einer Seitenstraße fand ich ein Café, eine alte Villa mit Tischen unter hohen Bäumen. Doch als wir uns dem Garten näherten, waren alle Tische besetzt. Unschlüssig standen wir im Schatten. Den anderen Gästen ging es wie uns; sie dachten nicht daran, ihre Plätze zu räumen. Keinen Meter würde ich mehr laufen, soviel stand fest. Kurzentschlossen bat ich einen allein sitzenden Gast, seinen mit Papieren übersäten Tisch mit uns zu teilen. Widerwillig blickte er von seiner Arbeit auf, die er in den lauschigen Garten verlegt hatte. Wir störten. Doch war dies nicht zu ändern. Er nickte nur und wandte sich wieder der Arbeit zu.
Unser Tischnachbar hatte allerdings keine Chance, mit der Durchsicht seiner Papiere fortzufahren.
Unser Tischnachbar hatte keine Chance

Denn sobald wir uns erholt und gestärkt hatten, fingen wir an, einander all die Fragen zu stellen, die sich auf beiden Seiten angesammelt hatten. Peter genoss es, seine Geschichte auf Deutsch zu erzählen, seiner verlorenen Muttersprache, die zögerlich zu ihm zurückkam. Am meisten freute ihn, dass ich tatsächlich lachen musste, wenn er Witze machte. Erneut begann er, diesmal ohne Mittelsmann, seine Berliner Jahre für mich zu rekapitulieren. Und obwohl ich die Fakten, Namen und Ereignisse bereits kannte, war es eine andere Geschichte. Anders, weil er sie aus seiner Sicht und mit kleinen Bemerkungen versehen darstellte, und weil ich am Lachen hörte, dass nichts Bitteres zurückgeblieben war. Bemerkenswert war auch, dass nicht nur ich Fragen hatte, sondern auch ihn meine Ansichten interessierten. Für ihn war ich die Expertin – eine Rolle, mit der ich mich noch anfreunden musste.
Wie war das mit dem Gestaponachbarn?
Ich fragte also drauflos: Wie war das mit dem Gestaponachbarn? (Er wurde von sowjetischen Soldaten bei Kriegsende erschossen und in den Landwehrkanal geworfen. Peter hatte noch das Bild des Erschossenen vor Augen, der pittoresk über das Geländer hing.) Wie konnten Lotte und Hans existieren, als Juden mitten in Berlin? (Peter wusste es nicht, er wusste nur, dass sie immer mehr als genug zu Essen hatten.) Wusste er als Kind überhaupt, dass er in Gefahr war? (Ja, Lotte schärfte ihm ein, dass er sich still zu verhalten habe, wenn sie kontrolliert würden, und dass er dann Peter Müller hieße.)
Unser Tischnachbar war nur noch zum Schein in seine Papiere vertieft. In Wahrheit lauschte er neugierig und verwundert unserem Gespräch.
Wir redeten und redeten, tranken Limonade und Kaffee, und immer wieder blickte ich zu Sarah hinüber, die dem auf Deutsch geführten Gespräch nicht folgen konnte. Doch auf meine Nachfragen erwiderte sie vergnügt mit ihrem bißchen Englisch, sie erkenne all diese Geschichten selbst in einer fremden Sprache wieder.
Irgendwann entschuldigte ich mich und suchte die Toilette. Die Villa war wunderschön, in der kalten Jahreszeit ein perfekter Ort, mit Wintergarten, Parkett, Wandmalereien und einer roten Wandbespannung. Heute jedoch stand hier die Luft. Nachdem ich mein Gesicht mit kaltem Wasser besprengt hatte, beeilte ich mich, ins Freie zu kommen.
Draußen saß unser Tischnachbar wieder ungestört allein am Tisch. Meine Begleiter standen im Garten und diskutierten lebhaft mit einem Gast, den sie soeben kennengelernt zu haben schienen. Es war faszinierend, wie mühelos Peter in seinem brüchigen Deutsch kommunizierte, mit jedem Hotelportier, Eisverkäufer oder Kellner Gespräche anfing, scherzte und lachte. Doch wie die beiden in den fünf Minuten meiner Abwesenheit bereits neue Bekanntschaften geschlossen haben konnten, war unbegreiflich. Diese siebzigjährigen Israelis schlugen mich um Längen. Sie marschierten stundenlang bei 35 Grad durch Berlin, bewiesen enorme Frustrationstoleranz und legten beim Socializing ein Tempo vor, von dem ich nur träumen konnte.
„He’s a great man!“
Ganz so war es doch nicht. Was ich nämlich nicht kannte, doch bald kennenlernen würde, war das Phänomen, dass Israelis überall auf der Welt andere Israelis treffen. Der ältere Herr, mit dem die beiden so intensiv im Gespräch waren, stellte sich als ehemaliger Vorgesetzter von Peter heraus. Was die drei auf Hebräisch besprachen, entzog sich meiner Kenntnis, doch ab und an streuten sie englische Brocken ein und übersetzten mir den Gesprächsinhalt. Der Ex-Boss war mit seiner Frau als Tourist in Berlin und zufällig in das selbe Café geraten. Er war erstaunt, dass Peter in Berlin geboren war, er habe ihn immer für einen Sabre, einen eingeborenen Israeli gehalten. Mit stolzer Geste zeigte Peter in Richtung Kudamm: Gleich hier um die Ecke, hieß das. In der Tat: Wo sich in den 1930er Jahren die jüdische Privatklinik befunden hatte, in der seine Mutter ihn zur Welt gebracht hatte, war heute ein Teil des KaDeWe, des luxuriösen Kaufhaus des Westens. Sein Chef machte große Augen. Während mir die beiden noch dolmetschten, schaltete er sich selbst ins Gespräch ein. Auf Peter deutend, rief er enthusiastisch: „He’s a great man! He’s a great man!“
Ich war offenbar mit einer Lokalberühmtheit unterwegs.
Das Peter Puzzle. Die Geschichte einer verrückten Recherche.